Folge 3: Sterblichkeit in der Covid-19-Pandemie, Telefoninterview mit Dr. Felix zur Nieden und Enno Nowossadeck

Demografie und Gesellschaft im Fokus Folge 3: Sterblichkeit in der Covid-19-Pandemie, Telefoninterview mit Dr. Felix zur Nieden und Enno Nowossadeck

Hallo und herzlich Willkommen zu einer neuen Podcastfolge der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Diesmal sind unsere  Gäste  Felix zur Nieden und Enno Nowossadeck. Das Gespräch haben wir am 06. Oktober aufgezeichnet. Dr. Felix zur Nieden arbeitet im Referat für „Demografische Analysen, Modellrechnung und natürliche Bevölkerungsbewegung“ am Statistischen Bundesamt. Außerdem ist er Sprecher des Arbeitskreises „Demografische Methoden“ der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Er wird heute über die Publikation „Sonderauswertung der Sterbefallzahlen 2020“ reden, die er mit seinen Kolleginnen und Kollegen des Statistischen Bundesamtes erstellt hat. Herr Enno Nowossadeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring“ am Robert Koch-Institut in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Folgen des demographischen Wandels für Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Auch Herr Nowossadeck ist Sprecher eines Arbeitskreises der DGD und zwar für „Mortalität, Morbidität und Alterung“. Er spricht über die kürzlich erschienene Publikation „Sterblichkeit Älterer während der COVID-19-Pandemie in den ersten Monaten des Jahres 2020“.
Viel Spaß beim Zuhören!

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Dann begrüße ich Sie und freue mich sehr, dass Sie die Zeit gefunden haben. Wollen wir vielleicht damit starten, dass Sie einmal den Zuhörern sagen, um welche Forschung es geht? Also nur mal einen kurzen Überblick über den Inhalt?

zur Nieden: Am Statistischen Bundesamt stellen wir im Verbund zusammen mit den Statistischen Landesämtern die gesamten Sterbefallzahlen für Deutschland bereit. Und im Zuge jetzt der Corona-Pandemie haben wir das im Rahmen der Sonderauswertung gemacht und zwar schon nach etwa vier Wochen, nach der letzten Berichtswoche. Das heißt zum Beispiel, dass wir die Daten auch regional bereitstellen, nach Bundesländern oder eben auch altersspezifisch und das auf sehr kleine Zeiteinheiten, also auch für Tage und für Wochen. Normalerweise werden altersspezifische Unterschiede ja eher jahresweise betrachtet. Aber die übergeordnete Frage ist: Gibt es einen Corona-Effekt in den Gesamtzahlen? Und in anderen Ländern gab es früh die Berichte, zum Beispiel bei der New York Times gibt’s da einen sehr guten Überblicksartikel, der auch ständig aktualisiert wird mit der Überschrift „Tracking the True Toll of the Coronavirus Outbreak“1. Bei unseren Daten geht’s eben darum diese Fragen, die da aufgeworfen werden, in der Krisensituation so schnell wie möglich auch für Deutschland beantworten zu können. Wir machen jetzt am Bundesamt keine Forschung direkt, wie an einem Forschungsinstitut. Wir können natürlich auch neben den bloßen Zahlen, dann auch eine erste Einordnung der Zahlen mitliefern. Wir müssen genau überlegen, welche Zahlen man heraushebt, welche Befunde man so ein bisschen in den Vordergrund hebt und herausstellt. Darum geht’s im Prinzip bei unserer Arbeit.

Sie haben den Begriff Übersterblichkeit benutzt, können Sie vielleicht mal kurz erklären, was das bezeichnet?

zur Nieden: Also das ist ein Konzept, das kommt ja eigentlich eher aus der Epidemiologie und der Public Health Forschung. Aus meiner Sicht ist es da ganz wichtig zu beachten, dass es kein fest definiertes wissenschaftliches Konzept ist. Im Kontext von Covid-19 geht’s bei dem Begriff aber eigentlich um eine erhöhte Sterblichkeit im Zeitauflauf – also die Frage: „Geht die Sterblichkeit jetzt in der Krisensituation über die Sterblichkeit außerhalb der Krisensituation hinaus?“. Und die Frage kann man dann natürlich auch auf verschiedene Arten und Weisen beantworten: Man kann sich Sterberaten angucken, oder nur die absoluten Sterbefallzahlen, man kann es alters- und geschlechtsspezifisch machen. Es ist also total wichtig, wenn man von Übersterblichkeit spricht, selbst für sich klar zu definieren: „Wie hat man das gemessen?“ – das muss man eigentlich immer dazu sagen, weil es nicht so ein genau festgelegter Begriff ist, wie jetzt zum Beispiel Lebenserwartung. Da weiß ja jeder Demograph zumindest: Ok, das wird mit einer Sterbetafel berechnet, das sind die und die Berechnungsschritte. Das ist bei Übersterblichkeit halt nicht so. Was wir gemacht haben, in unseren Pressemitteilungen, ist, dass wir den einfachen Durchschnitt der vier Vorjahre und dann mit den Zahlen von 2020 verglichen haben und wenn die halt über den Vorjahresdurchschnitt hinausgehen, würden wir dann von einer Übersterblichkeit sprechen. Man kann das aber natürlich auch viel ausgefeilter machen. Alles hat da, glaube ich, seine Berechtigung. Mir ist nur wichtig, dass man einmal genau dazu sagt: „Ich spreche von Übersterblichkeit und habe das so und so gemessen und für mich definiert“ – damit das dann auch ganz klar ist.

Das ist ja sicherlich auch wichtig, wenn die Daten dann in den Medien zu lesen sind. Weil Sie das jetzt auch gerade angesprochen haben – das eben klar ist, was mit Übersterblichkeit tatsächlich auch außerhalb der Wissenschaft oder Ihrer Publikation zu verstehen ist.

zur Nieden: Genau passiert halt leider meist nicht in meiner Wahrnehmung, da wird dann eher gesagt: Es gibt in Deutschland keine Übersterblichkeit, Punkt. Aber wie man es genau gemessen hat oder wie man jetzt zu dem Schluss kommt, wird dann nicht gesagt.

Ja, das scheint ein Problem zu sein aktuell, dass viele Zahlen nach außen gehen, die aber schlecht definiert sind, oder nur unzureichend definiert sind und dadurch natürlich auch Verwirrung stiften, bei Leuten, die eben nicht vom Fach sind. Das ist ja auch ein Grund, warum wir diesen Podcast ins Lebens gerufen haben, um ein bisschen einen Einblick zu geben in diese Forschung und vielleicht ein bisschen aufklären zu können. Herr Nowossadeck, möchten Sie nochmal über Ihre Forschung sprechen? Soweit ich das verstanden habe, greifen Sie ja sehr ineinander.

Nowossadeck: Genau. Ich nutze die Daten, die das Statistische Bundesamt zur Verfügung gestellt hat, also diese kalenderwöchentlichen Sterberaten für die ältere Bevölkerung. Diese habe ich untersucht. Ältere Bevölkerung habe ich in diesem Fall als 65 Jahre und älter definiert. Ich habe mir den zeitlichen Verlauf angeschaut. Zielstellung war, Zeiträume zu identifizieren, in denen möglicherweise die Gesamtsterblichkeit erhöht gewesen ist. Also die Gesamtsterblichkeit, nicht die coronabedingte Sterblichkeit, das können diese Daten noch nicht aussagen, aber die Gesamtsterblichkeit im Vergleich zu anderen Zeiträumen. Ein zweites Ziel war herauszufinden, ob es regionale Unterschiede gibt. Für die Frage habe ich zwei verschiedene Regionen gebildet. Eine süddeutsche Region, die aus den beiden Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern* besteht, und eine norddeutsche Region, die aus den Bundesländern Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg miteinander verglichen. Für den Vergleich habe ich die Daten der Kalenderwochen bis Anfang Juni diesen Jahres verwendet und den gleichen Zeitraum 2016 herangezogen.

In Ihrer Publikation habe ich gelesen, dass Sie auch von Übersterblichkeit sprechen, aber auch von Exzess-Mortalität. Können Sie mir nochmal sagen, was man darunter versteht?

Nowossadeck: Zwischen Übersterblichkeit und Exzess-Mortalität sehe ich jetzt keinen Unterschied. Ich sehe eher die Frage, wie sie auch Felix zur Nieden besprochen hat, dass man klar definieren sollte, was man getan hat und wie die jeweiligen Kennziffern berechnet worden sind. Exzess-Mortalität ist eher der Fachbegriff, während Übersterblichkeit eher in eine umgangssprachliche Richtung geht.

Gibt es einen Grund dafür, dass Sie Ihre Untersuchungspopulation ab 65 Jahren gewählt haben?

Nowossadeck: Ja, dafür gibt es einen Grund. Wir wissen, dass die Sterblichkeit, die durch die Corona-Erkrankung verursacht wird, vor allen Dingen die ältere Bevölkerung betrifft, also ältere Menschen, die schwerere Vorerkrankungen haben. Die sind dann natürlich besonders gefährdet und um mögliche Erhöhungen der Gesamtsterblichkeit zu identifizieren, habe ich versucht, die Untersuchungspopulation möglichst genau einzugrenzen.

Apropos Eingrenzung: Sie sagten auch, Sie haben ja dann in Ihrer Untersuchung norddeutsche Regionen und süddeutsche Regionen zusammengefasst und sie miteinander verglichen. Ist das für das Gesundheitsmonitoring am Robert Koch-Institut von besonderer Bedeutung?

Nowossadeck: Die Frage finde ich interessant, weil dieses Gesundheitsmonitoring natürlich den Rahmen bildet, für unsere Forschungstätigkeit zur Covid-19-Pandemie. Dabei sind natürlich regionale Vergleiche schon immer ein Thema gewesen. Das können Sie an den verschiedensten Publikationen auch erkennen, die wir veröffentlicht haben. Die Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring hat beispielsweise verschiedene Berichte zu Ost-West-Unterschieden im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen veröffentlicht. Und da kann man auch sehen, dass einige gesundheitsbezogene Unterschiede zwischen Ost und West in den letzten Jahren geringer geworden sind, oder auch gar verschwunden sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die Lebenserwartung von Frauen. Deshalb sind wir auch zu der Auffassung gekommen, dass der Ost-West-Ansatz bezüglich verschiedener gesundheitsbezogener Problemlagen keine sinnvolle Fragestellung mehr darstellt. Deswegen haben wir auch andere regionale Unterschiede in den Blick genommen und natürlich bezieht sich das auf Bundesländer, wie ich das jetzt getan habe, aber auch zunehmend auf kleinräumigere Unterschiede, wie beispielsweise Kreise.

Wenn wir bei der Arbeit waren vom Gesundheitsmonitoring, dann würde ich gerne nochmal zu Ihnen kommen, Herr zur Nieden: Wie genau werden die Sterbefälle erhoben bei Ihnen am Statistischen Bundesamt? Und welche Besonderheiten gibt es da, besonders in Bezug jetzt auf die Pandemie?

zur Nieden: Die Sterbefallstatistik ist eine gesetzlich geregelte, dezentrale Statistik und was wie erhoben wird, ist quasi genau gesetzlich geregelt. Da gibt es §2 des Bevölkerungsstatistikgesetzes, was das eben genau festlegt. Und die Daten, die stammen ursprünglich von den Standesämtern. Ein Sterbefall muss ja auch von den Angehörigen in dem Standesamt gemeldet werden, in dessen Zuständigkeit sich der Sterbefall ereignet hat. Und sobald der Sterbefall vom Standesamt beurkundet wurde, werden die Daten an das übergeordnete Statistische Landesamt weitergeleitet. Und dort werden die Daten dann mit Hilfe von Eintragsnummern erstmal auf ihre Vollständigkeit überprüft und auch plausibilisiert. Plausibilisiert heißt jetzt, dass fehlende oder nicht plausible Daten oft dann auch in Rücksprache mit den Standesämtern bereinigt werden. Und dann werden die Daten, sobald das alles geklärt ist, mit dem nach dem Wohnort zuständigen Statistischen Landesamt ausgetauscht. Das heißt, wenn jetzt zum Beispiel jemand in München gestorben ist, aber in Hamburg gewohnt hat, dann kommt der Sterbefall erstmal im Statistischen Landesamt in Bayern an, wird dann da plausibilisiert, und dann wandert er ins Statistikamt Nord und kommt dann nachher letztendlich in die Daten. Das ist auch für die Ermittlung der Bevölkerungszahlen notwendig, weil jemand der in Hamburg gewohnt hat, muss natürlich auch in Hamburg von der Bevölkerung abgezogen werden, zur Ermittlung der Einwohnerzahl. Erst wenn das alles gelaufen ist, gehen die Daten quasi an uns, ans Bundesamt, und können da dann weiterverarbeitet und aufbereitet werden. Und bei den ganzen Schritten, die ich jetzt genannt habe, kann man sich natürlich vorstellen, dass das eine erhebliche Zeit benötigt. Um jetzt bei der Sonderauswertung, die wir aktuell zur Verfügung stellen, schneller zu sein, greifen wir die Daten schon direkt beim Dateneingang der Statistischen Landesämter ab. Die sind dann aber eben noch nicht von den Landesämtern plausibilisiert und das muss man natürlich dann auch im Hinterkopf haben, wenn man mit diesen Daten arbeitet. Man muss halt beachten, dass es im Vergleich zu den endgültigen Daten noch zu Änderungen kommen kann. Und außerdem sind die Daten auch noch nicht vollständig. Wir gehen für die letzte Woche, die wir veröffentlichen, ungefähr davon aus, dass die Daten zu 97, 98 Prozent vollständig sind. Da muss man aber auch im Hinterkopf haben, dass sich das regional stark unterscheiden kann. Für eine vertiefte wissenschaftliche Analyse ist es deshalb, glaube ich, auch wichtig nicht überzuinterpretieren.

Gerade wenn Sie sagen, oder sich bezogen haben auf die auch unterschiedlichen Ämter in den Bundesländern, stellt sich für mich auch die Frage; Wie ist denn die Datenlage besonders in der aktuellen Pandemie im internationalen Vergleich zu bewerten, die wir hier in Deutschland leisten können?

zur Nieden: Ich bin jetzt auch kein absoluter Experte für die internationale Datenlage, aber gucke mir natürlich auch an, was die anderen nationalen Statistischen Ämter so veröffentlichen und mein persönlicher Eindruck ist, dass wir da eigentlich schon ein ziemlich gutes Datenangebot bereitstellen auch in puncto Tiefe und Ausführlichkeit und welche Merkmale zur Verfügung stehen. Andere Länder sind teilweise noch schneller, aber das hat dann eben manchmal auch seinen Preis. Zum Beispiel werten die dann nicht das Sterbedatum aus – also zum Beispiel, wann genau jemand gestorben ist, sondern das Meldedatum: Wann haben sie eine Information von dem Sterbefall bekommen? Und wann der genau gestorben ist, kann man dann erstmal gar nicht so genau zuordnen. Wird zum Beispiel in Großbritannien so gemacht. Oder die Länder nutzen zum Teil Schätzmodelle für unvollständige Daten und schätzen die dann halt hoch, wo natürlich dann auch Annahmen eingebunden sind und gewisse Unsicherheiten mit verbunden sind. Oder sie veröffentlichen unvollständige Daten, die ja wirklich zum großen Teil noch unvollständig sind, wie es zum Beispiel in Norwegen gemacht wird. Also die höhere Schnelligkeit in anderen Ländern ist oft dann auch mit weiteren Einschränkungen in der Datennutzbarkeit verbunden.

Dankeschön. Herr Nowossadeck, wie würden Sie die Lage bewerten, jetzt gerade in Hinblick auf Ihre Forschung, die Sie veröffentlichen?

Nowossadeck: In welcher Beziehung meinen Sie jetzt „die Lage bewerten“?

Wie ich das von Herrn zur Nieden so höre, sind es ja Daten, die teilweise nachgearbeitet werden, wo man vielleicht ein bisschen Zeit vergehen lassen muss, bis man die tatsächlichen Zahlen hat. Wie zeigt sich das in Ihrer Forschung?

Nowossadeck: Also die Probleme, die Felix zur Nieden geschildert hat, zielen auf eine andere Fragestellung, als sie für mich eine Rolle spielen. Es ist natürlich wichtig, die Sterbefälle korrekt zu zählen, damit auch die Bevölkerungsfortschreibung korrekt ist. Das ist aber nicht meine Fragestellung. Meine Fragestellung war ja: „Haben wir Zeiträume, wo die Sterblichkeit erhöht ist?“. Wenn man davon ausgeht, dass schon 97 Prozent aller Fälle da sind, wird sich die Gesamtsituation nicht mehr dramatisch verändern. Insofern kann ich aus meiner Sicht mit dieser Unsicherheit leben, weil es hier sozusagen zwei gegensätzliche Interessen gibt. Das eine Interesse lautet Genauigkeit und das andere Interesse lautet Geschwindigkeit. Wir wollen möglichst schnell Daten zur Verfügung stellen.

Können wir vielleicht noch ein bisschen tiefer in Ihre Forschung reingehen und können Sie beide mir nochmal sagen, wie die Methodik aussieht, die Sie verwenden? Also, warum zum Beispiel wurde das Jahr 2016 genutzt, um die Zahlen zu vergleichen?

Nowossadeck: Das kann ich gern tun. Ich will nochmal genau sagen, was ich berechnet habe, weil wir gerade vorhin darüber geredet haben, dass man genau sagen sollte, was man berechnet hat. Sterberaten habe ich berechnet als die Zahl der Sterbefälle, wie sie vom Statistischen Bundesamt gemeldet worden sind, pro 100.000 Einwohner. Und diese Sterberaten, berechnet man natürlich, um unterschiedlich große Einwohnerzahlen in den verschiedenen Regionen zu berücksichtigen. Bayern hat beispielsweise 13 Millionen Einwohner, Mecklenburg-Vorpommern 1,6 Millionen Einwohner, das ist schon von daher klar, dass unterschiedlich große Sterbezahlen entstehen werden. Für die Bildung der Sterberaten habe ich die Einwohnerzahl am 01.01. des jeweiligen Jahres benutzt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen mich bei der amtlichen Statistik zu bedanken. Dass sie diese Sterbezahlen zur Verfügung gestellt haben, aber auch natürlich die Einwohnerzahlen deutlich früher zur Verfügung gestellt haben. Die Frage, warum ich das mit dem Jahr 2016 verglichen habe: Das ist so, dass wir in den letzten Jahren immer wieder Grippewellen hatten und wir wissen glaube ich alle, dass die gesundheitlichen Auswirkungen von Grippewellen sehr unterschiedlich sein können. Grippewelle ist eben nicht gleich Grippewelle. Wir haben ja vorhin über die Übersterblichkeit oder Exzess-Mortalität geredet und die gibt es auch bei Grippeerkrankungen. Im Winter 2017/18 gab es eine Übersterblichkeit von ca. 25.000 Gestorbenen. Im Winter 2015/16 gab es keinerlei Übersterblichkeit aufgrund von Grippe. Und wenn ich sage “Winter 2015/16“, dann muss man wissen, dass die erhöhten Sterbefallzahlen eigentlich immer erst ab Januar auftreten, sodass wir die Werte des Kalenderjahres 2016 verwenden können, wenn es um die grippebedingte Übersterblichkeit geht. Ich habe mich zunächst erstmal entschieden, die Übersterblichkeit oder die Sterblichkeit in 2020 zu untersuchen, im Vergleich zu einem Jahr, in dem es keine grippebedingte Exzess-Mortalität gegeben hat. Einfach, um sozusagen die Fragestellung sehr klar zu fokussieren. Wenn ich jetzt ein anderes Jahr herangezogen hätte, hätte ich sofort die Fragestellung mit im Boot: Ist das denn typisch für Grippe-Exzess-Mortalität?. Wir haben ja unterschiedlich hohe Zahlen, wie ich schon dargestellt habe, um bis zu 25.000 Gestorbenen und auf der anderen Seite möglicherweise gar keine Gestorbenen.

Und Herr zur Nieden?

zur Nieden: Wir vergleichen die Zahlen in erster Linie mit dem Durchschnitt der Vorjahre, um eben auch so ein bisschen den Vorwürfen zu entgegnen: „Oh die nehmen jetzt das Jahr, wo es am niedrigsten war und wo keine Grippewelle war.“. Grippewelle verursacht ja auch Sterbefallzahlen, wie man ja insbesondere auch im Jahr 2018 sieht. Und dann ist es eben ein guter Kompromiss, mehrere Jahre in diesen Durchschnittsverlauf einzubeziehen, um dann zu versuchen, noch ein bisschen objektiver zu beurteilen: „Was ist jetzt eine erhöhte Sterblichkeit, oder nicht?“ und „Wie sind da normale Schwankungen?“ mit drin zu haben und da nicht nur ein Jahr abzubilden. Wir gehen aber auch nicht viel weiter zurück und bilden auch längere Durchschnitte, um eben auch zu berücksichtigen, dass sich die Altersstruktur ändert und das sich natürlich auch auf die Sterbefallzahlen auswirkt. Da versuchen wir dann so einen Kompromiss zu finden. Den Durchschnitt nehmen wir unter anderem auch, weil er eben auch gut vermittelbar ist. Eine ganz wissenschaftliche Methode, wie das jetzt zum Beispiel beim EuroMOMO2 gemacht wird, mit einem generalisierten Poisson-Regressionsmodell, das ist natürlich schwierig, das dann der breiten Öffentlichkeit griffig zu vermitteln. Das richtet sich dann eher an eine Forschungsöffentlichkeit.

Vielen Dank für den Einblick. Dann können wir zum richtig spannenden Teil kommen und zwar: Welche Ergebnisse haben sich denn in Ihren Forschungen gezeigt?

Nowossadeck: Also ich habe, wie gesagt den zeitlichen Lauf analysiert und ich glaube, es ist gut, bei der Darstellung der Ergebnisse sofort auch in den Regionenvergleich einzusteigen. Wir können sehen, dass es in süddeutschen Regionen ein deutlich verändertes Muster des zeitlichen Verlaufes gegeben hat. Dieses Muster hat sich weder in der norddeutschen Region gezeigt, noch 2016 in beiden Regionen. Wir haben einen Zeitraum mit erhöhten Sterberaten in der älteren Bevölkerung und derzeit auch mit den höchsten Sterberaten, waren die Kalenderwoche 14 und 15, also die Zeit zwischen dem 30. März und dem 12. April. Gegenüber dem Höhepunkt der Inzidenzentwicklung, also der Entwicklung der Neuerkrankungszahlen, ist das etwa zwei bis drei Wochen später. Wenn man bedenkt, dass die Zeit vom Erkrankungsbeginn bis zu einem möglichen Tod etwa zwei bis drei Wochen beträgt, passen die Daten in dieser Hinsicht gut zusammen. Wenn man das jetzt in einem Satz zusammenfassen würde, kann man sagen, dass wir ein ganz spezielles zeitliches Muster in Süddeutschland sehen, das sehr wahrscheinlich mit der Covid-19-Pandemie in Zusammenhang steht. Ein zweites spannendes Ergebnis, finde ich jedenfalls, ist Folgendes: Wir wissen seit langem, dass es in Deutschland ein Nord-Süd-Gefälle in der Sterblichkeit gibt. Die Sterblichkeit in Süddeutschland ist niedriger, als die in Norddeutschland. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Covid-19 Pandemie, wie ich sie gerade dargestellt habe, also die Kalenderwochen 14 und 15, waren die Sterblichkeitsraten in Süddeutschland aber höher als in der norddeutschen Region. Wir hatten also eine gewisse inverse Situation. Das ist zwar eine temporäre Erscheinung, ist aber gleichwohl ein interessantes Phänomen. Und insgesamt ist natürlich schon die Frage: „Wie lassen sich diese beiden Hauptergebnisse erklären?“. Wir wissen, dass regionale Unterschiede in der Sterblichkeit, häufig zumindest teilweise, aus sozialen Unterschieden resultieren. Regionen in denen der Anteil von Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status höher ist, also wie beispielsweise in Süddeutschland, diese Regionen weisen im Allgemeinen niedrigere Sterblichkeitsraten auf, als Regionen mit einem niedrigeren Anteil von Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status. Das traf in der ersten Pandemie-Welle offenbar nicht zu. Im Gegenteil. Hintergrund hierfür ist, dass der Eintrag des Corona-Virus nach Deutschland zu einem beträchtlichen Teil aus den Skigebieten der Alpen erfolgt ist. Wir gehend davon aus, dass überdurchschnittlich mehr Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status sich einen Skiurlaub leisten können, also möglicherweise auch einen zweiten Urlaub im Jahr. Und natürlich müssen wir an die Superspreading-Events denken, an denen überdurchschnittlich deutlich jüngere Menschen beteiligt waren, durch die die weitere Verbreitung des Virus dann erfolgte. Das hat vor allen Dingen in Süddeutschland stattgefunden. Die Weiterverbreitung erfolgte dann regional, aber auch in höhere Altersgruppen.

Ja, sehr spannend. Vielen Dank. Herr zur Nieden?

zur Nieden: Ich habe es ja vorhin schon versucht zu sagen: wir sind ja nicht in erster Linie ein Forschungsinstitut und haben da jetzt so detaillierte Forschungsergebnisse. Bei uns steht da dann auch eher die deskriptive Beschreibung im Vordergrund und der Artikel, über den wir heute sprechen, da wollten wir dann auch erstmal herausstellen, wie eigentlich überhaupt der Erhebungsprozess ist, weil natürlich jetzt, als Statistik so im Fokus stand, viele Fragen aufgetaucht sind. Die Leute haben sich auch gewundert: „Warum kann man nicht einfach auf einen Knopf drücken und hat dann am nächsten Tag die Sterbefallzahlen von gestern?“. Das war so ein bisschen auch die Aufgabe des Artikels, das mal so ein bisschen offen zu legen und diese Fragen mal ausführlich beantworten zu können. Nichtsdestoweniger haben wir natürlich auch noch eine kleine Analyse hinten ran gehängt in dem Artikel. Da ist halt schon ein auffälliger Befund, dass wenn man die Altersstruktur mit einbezieht und nicht nur auf die absoluten Fallzahlen guckt, ein Großteil der beobachteten Übersterblichkeitsbefunde, bezogen auf ganz Deutschland erstmal, erstmal verschwindet. Eigentlich ist es ja bei jeder demographischen Analyse wichtig, die Altersstruktur irgendwie mit einzubeziehen und drauf zu gucken, was sich dann für Befunde ergeben und dann sieht man eben, dass sich vor allen Dingen nur die Altersgruppe 80+ von der Übersterblichkeit betroffen ist und dann auch nur, hat man für ungefähr drei Kalenderwochen, von der 14. bis zur 16. Kalenderwoche um auch bis zu 9% immerhin, auch ein relativ deutlicher Befund ist. Und in unseren Zahlen sieht man eben auch, dass die süddeutsche Region, was auch Herr Nowossadeck gerade schon bestätigt hat, auffällig ist. Da hatten wir ja auch schon bei den absoluten Sterbefallzahlen in 2020 die fast 30 Prozent über denen der Vorjahre lagen. Auch wichtig ist zu betonen, dass man eben aus diesen Zahlen aber nicht, selbst wenn die Befunde zur Übersterblichkeit nur sehr gering sind, oder nur die sehr hohen Altersgruppen betreffen, dass man daraus jetzt nicht direkt ableiten kann, dass Covid-19 nicht gefährlich ist, was ja teilweise auch in der öffentlichen Diskussion passiert. Unsere Zahlen können eben keinen Verlauf anzeigen, der passiert wäre, wenn die ganzen Maßnahmen um das zu verhindern, nicht gemacht worden wären. Diesen hypothetischen Verlauf gibt’s einfach nicht. Wir haben jetzt halt den Verlauf, der mit den Maßnahmen passiert ist und da ist eine geringe Übersterblichkeit vor allen Dingen auch nur in den hohen Altersgruppen. Aber wenn man den Blick auf andere Länder wirft, wo teilweise trotz Maßnahmen, wirklich exorbitante Befunde zur Übersterblichkeit vorliegen, so ein bisschen auch die zentralen Ergebnisse und Befunde, die wir dann auch versuchen in der Diskussion rauszustellen in dem Artikel.

Nowossadeck: Da würde ich gern einhaken. Das finde ich extrem wichtig Felix, was du da gerade gesagt hast, dass wir in Deutschland ja nicht wissen können, wie es ohne diese Maßnahmen gelaufen wäre. Natürlich hilft ein Blick in andere Länder, wo die Maßnahmen nicht in dieser Stringenz und nicht in dieser Geschwindigkeit angesetzt worden sind. In der ganzen Diskussion, die es jetzt auch wieder gibt, mit den zunehmenden Inzidenzzahlen. Wird ja immer diskutiert, wie denn die Auswirkungen sind, wenn man jetzt keinen neuen Lockdown macht, oder wenn man bestimmte Maßnahmen nicht macht. Da müssen wir unbedingt nach Großbritannien schauen, in die USA oder nach Brasilien. Wir sehen dort exorbitante hohe Sterbezahlen. Das wäre möglicherweise uns auch passiert, wenn wir nicht möglicherweise in diesem Fall eine Politik gehabt hätten, die sich wissenschaftlich hat beraten lassen.

Ja vielen Dank. Damit haben Sie schon meine nächste Frage beantwortet. Ja dann noch ein kurzer Ausblick: Sind weitere Forschungen und Veröffentlichen zu erwarten? Ich habe auch rausgehört, dass es ja natürlich auch Aufgabe ist, vielleicht auch ein bisschen Unwissenheit aufzuklären? Wie sehen da die nächsten Schritte aus, können Sie uns dazu was sagen?

Nowossadeck: Ich kann gerne dazu was sagen. Das Gesundheitsmonitoring und die Gesundheitsberichtserstattung, die bei uns in der Abteilung laufen, die sind ähnlich wie im Statistischen Bundesamt keine reine Wissenschaft. Wir machen auch wissenschaftliche Arbeit aber eine unserer Aufgaben ist es auch die interessierte Öffentlichkeit und insbesondere auch die Fachöffentlichkeit oder auch Journalisten, sachlich zu informieren. Dafür gibt es seit einigen Jahren das Journal of Health Monitoring3, in dem mein Beitrag auch erscheinen wird, da achtet die Redaktion schon drauf, dass die Sprechweise, also der Ausdruck, nicht zu kompliziert wird. Also, dass auch Fachfremde das verstehen können, ohne zu viel Vorwissen zu haben. Das wird auch weiterhin so sein. Meine eigene Tätigkeit ist natürlich in die Analysen zur regionalen und sozioökonomischen Fragestellungen des Pandemieverlaufs eingebettet. Also es ist nicht so, dass ich da völlig losgelöst arbeite. Die Tradition unseres Fachgebietes ist schon die Analyse sozioökonomischer Fragestellungen in der Gesundheit. Und genau das wollen wir auch weiterhin untersuchen.

zur Nieden: Bei uns ist es natürlich auch so, dass die Fragestellung natürlich so lange die Pandemie läuft, aktuell bleiben wird: Wie schlägt die Pandemie auf die Gesamtsterbefallzahlen durch? Und deswegen werden wir voraussichtlich diese Sonderauswertung erstmal natürlich auch weiter führen. Und auch weiter, wenn es bestimmte Entwicklung gibt, die auch mal mit einem Artikel zum Beispiel in unsere Hausmagazin Wirtschaft und Statistik4 herausstellen, haben im Prinzip auch den gleichen Ansatz wie schon Enno beschrieben hat, das Journal of Health Monitoring, das man eben auch versucht, mit der allgemein verständlichen Sprache auch eine große Leserzahl zu erreichen und eben auch diese ganzen Hintergründe offenzulegen. Wir sind natürlich auch im ständigen Austausch mit den Nutzerinnen und Nutzern unserer Statistik, die uns dann natürlich auch viele Fragen stellen: „Warum kann man nicht das noch auswerten? Hier vielleicht noch Daten?“, zum Beispiel. Wir haben das ja am Anfang alles relativ schnell aus dem Boden gestampft, deswegen haben wir die Daten nach Bundesländern anfangs nach Registrierort ausgewertet, also da, wo der Sterbefall tatsächlich passiert ist. Das wiederrum ließ sich dann aber schwer mit den Vorjahren vergleichen. Und jetzt haben wir eben auch noch ein paar Tests gemacht und wir können nun doch schon Auswertungen zum Wohnort machen. Anfang Oktober stehen deshalb die Daten nach Bundesländern auch nach Wohnort zur Verfügung. Fragen waren da: „Kann man Daten nicht auch nach Geschlecht irgendwie auswerten um eben zu sehen, ob die Geschlechter unterschiedlich betroffen sind?“. Wir werden das alles im Auge behalten und auch immer mal wieder eine Pressemitteilung wahrscheinlich zum Thema machen, wenn wirklich ein interessanter Befund da ist – und eben auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Dann bedanke ich mich sehr für Ihre äußerst wichtige Darlegung und auch differenzierte Erklärung Ihrer Forschung.

*in dieser schriftlichen Version berichtigt. Im Audio wird „Berlin“ gesagt.

Die thematisierten Forschungen von Dr. Felix zu Nieden und Enno Nowossadeck:

Zur Nieden, F., Sommer, B., & Lüken, S. (2020). Sonderauswertung der Sterbefallzahlen 2020. WISTA–Wirtschaft und Statistik, 72(4), 38-50.
Nowossadeck, E. (2020). Sterblichkeit Älterer während der COVID-19-Pandemie in den ersten Monaten des Jahres 2020. Gab es Nord-Süd-Unterschiede?. Journal of Health Monitoring 5(S9), 2–13.

Weitere Informationen:

1 Jin Wu, Allison McCann, Josh Katz, Elian Peltier, Karan Deep Singh (2020): https://www.nytimes.com/interactive/2020/04/21/world/coronavirus-missing-deaths.html . The New York Times. [05.11.2020]

2 EuroMOMO: Europäisches Sterblichkeitsmonitoring für Exzess-Mortalität in Zusammenhang mit saisonaler Grippe, Pandemien und anderen Gefahren für die öffentliche Gesundheit. Daten aus 26 europäischen Ländern werden wöchentlich bereitgestellt. Weitere Informationen: https://www.euromomo.eu/  [05.11.2020].

3 Herausgeber: Robert Koch-Institut weitere Informationen und Ausgaben: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/JoHM/allgemein/Ueber_die_Zeitschrift_node.html [05.11.2020]

4 WISTA – Wirtschaft und Statistik. Herausgeber: Statistisches Bundesamt. Weite Informationen und Ausgaben:  https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/_inhalt.html [05.11.2020]

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Folge 2: Covid-19-Forschung am Robert Koch-Institut, Telefoninterview mit Dr. Annelene Wengler

Demografie und Gesellschaft im Fokus Folge 2: Covid-19-Forschung am Robert Koch-Institut, Interview mit Dr. Annelene Wengler

Wir begrüßen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, zur Podcastreihe der Deutschen Gesellschaft für Demographie. In der heutigen Folge sprechen wir mit Frau Dr. Annelene Wengler. Sie ist in der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring in der Gesundheitsberichterstattung am Robert Koch-Institut tätig. Außerdem ist sie seit 2019 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Todesursachenforschung, der Analyse von Routinedaten und der Gesundheit im Kontext der Migration.
Viel Spaß beim Zuhören!

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Hallo Frau Dr. Wengler,
schön, dass Sie sich Zeit nehmen für unsere Podcast-Reihe und uns über Ihre Forschung berichten möchten. Wollen wir vielleicht gleich damit starten, dass Sie uns einen Überblick geben, über welche Forschung wir reden wollen?

Ich arbeite bei uns am RKI, also am Robert Koch-Institut, im Projekt
Burden 2020 – die Krankheitslast in Deutschland und seinen Regionen1. Manche von Ihnen haben vielleicht schon mal von Burden of Disease gehört oder von Krankheitslastrechnungen, aber ich würde kurz nochmal skizzieren, was wir da machen. Also, grundsätzlich zielen Krankheitslastrechnungen darauf ab, die Auswirkungen von Morbidität und Mortalität auf die Bevölkerung zu messen. Das wird getan, indem die verloren Lebensjahre aufgrund von Erkrankung oder auch von frühzeitigem Tod gemessen werden. Im Bereich der Mortalität wird zum Beispiel für jeden Todesfall ermittelt, wie hoch die weitere Lebenserwartung gewesen wäre und als Summe werden die sogenannten Years of Life Lost (YLL) über Bevölkerungsgruppen hinweg gebildet. Gleichermaßen wird für Erkrankungen geschaut, wie viele Lebensjahre verloren gehen, wenn Menschen an einer bestimmten Erkrankung erkranken. Beide Sachen zusammen werden in einem Summenmaß, in dem Disability-adjusted Life Years (DALY), kombiniert. Ein großer Vorteil dieser Betrachtung ist, dass man eben nicht nur die reinen Fallzahlen betrachtet, sondern auch das Lebensalter oder die Schwere der Erkrankungen berücksichtigt. Grundsätzlich gibt es für unsere Studie auch ein Vorbild, nämlich die Global Burden of Diseases-Studie2, die am Institut for Health Metrics and Evaluation in Seattle durchgeführt wird. Wir passen jetzt aber unsere Analysen auf die deutsche Bevölkerung an und nehmen auch unterschiedliche und differenzierte Datenquellen und wollen vor allen Dingen auch regionalisierte Analysen bereitstellen. Im Rahmen dieses Projektes, machen wir auch Analysen von Covid-19 und gucken uns die Auswirkungen von Covid-19 auf die Bevölkerung an. Dabei berechnen wir in ersten explorativen Analysen die verlorene Lebenszeit aufgrund von Erkrankungen und aufgrund von frühzeitigem Tod.

Und wie Sie schon sagten, Sie am RKI forschen natürlich und welche weiteren Forscher sind daran noch beteiligt?

Also in unserem Projekt arbeiten wir ungefähr zu sechst hier am RKI. Wir sind aber in dem Projekt Burden of Disease und Burden 2020 zusammen mit dem Umweltbundesamt und mit dem wissenschaftlichen Institut der AOK, dem WIdO3, weil wir eben auch Krankenkassendaten verwenden, zum Beispiel.

Das bringt mich ja zu meiner nächsten Frage, wo Sie die Daten herbekommen. Sie sagten ja auch, dass ein Augenmerk Ihrer Forschung darauf liegt, das auch regionalspezifisch zu untersuchen. Wo bekommen Sie da die Daten her?

Also für unser übergeordnetes Projekt, in dem wir ja nicht nur Covid-19, sondern ganz viele verschiedene Erkrankungen und auch ganz umfassend die Todesursachen betrachten, nutzen wir ganz unterschiedliche Daten; die Krankenkassendaten, aber eben auch offizielle Statistiken, wie die Todesursachenstatistik. Wir ziehen auch unsere eigenen Surveys mit zu Rate und sind da sehr breit aufgestellt, was die Datenquellen angeht. Für unsere Analysen im Bereich von Covid-19 nutzen wir aber explizit die Meldedaten, die bei uns im Haus ja gebündelt und zusammengeführt werden.

 Auf die heutzutage, oder in letzter Zeit, sehr viele Leute Zugriff haben, oder zugreifen über Ihre Internetseite und sich die auch täglich vor Augen führen.

Genau. Wir haben zu jedem Covid-19-Fall auch verhältnismäßig differenzierte Daten, also wir wissen Alter und Geschlecht. Wir können es auch regional verorten, weil es über die Gesundheitsämter gemeldet wird und wir haben natürlich noch verschiedene andere Angaben zur Schwere der Erkrankung und auch zum Verlauf. Dementsprechend ist das auch ein sehr umfassender Datensatz mit sehr vielen Informationen.

 Und mit welchen Methoden gehen Sie da ran? Sicherlich haben die Daten, besonders die Todesmeldedaten, ja auch ihre Herausforderungen.

Genau, wir berechnen die verlorene Lebenszeit, zum einen aufgrund von Erkrankungen und aufgrund von Tod. Das machen wir grundsätzlich separat. Das machen wir auch in unserem Projekt Burden 2020 separat, weil die Methoden sehr unterschiedlich sind in beiden Bereichen. Für Todesfälle nehmen wir, verhältnismäßig einfach, den Sterbefall, haben ein Alter zum diesem Sterbefall und wissen dann, wie viel Restlebenszeit wir noch erwartet hätten. Da kann man sicher unterschiedliche Annahmen treffen, aber verhältnismäßig ist das eine relativ einfache Rechnung. Bei den Erkrankungen und den da berechneten Years Lost due to Disability (YLD) ist es ein bisschen komplexer, weil wir da nicht nur angucken, ob eine Person erkrankt ist, oder in welchem Alter, sondern auch, „Wie schwer war die Erkrankung?“. Da spielen dann Sachen mit hinein wie „Gab es einen Krankenhausaufenthalt?“, „Musste die Person beatmet werden?“ und das ist dementsprechend deutlich komplexer. Diese beiden Sachen führen wir dann nochmal zusammen.

Und zu welchen Ergebnissen kommen Sie da bisher bei Ihren Studien? Können Sie uns einen Überblick geben? Sicherlich, es läuft ja auch noch, aber das wir mal schauen, in welche Richtung es geht. Das ist ja super spannend!

In ersten Analysen zeigt sich, dass es durchaus Unterschiede gibt zwischen Mortalität und Morbidität. Wir sind in Deutschland grundsätzlich in der glücklichen Situation, dass wir eine relativ geringe Sterblichkeit haben. Wir haben im Moment 9.000 Sterbefälle in Deutschland. Das sind auf 200.000 Erkrankte oder gemeldete Fälle eben dann doch zum Glück gar nicht so viele. Wir sehen aber, dass sich Erkrankungen deutlich im mittleren Alter häufen, während Sterbefälle besonders stark im hohen Alter auftreten. Wenn man sich das jetzt absolut anguckt, ohne sich die Bevölkerungsstruktur dahinter anzuschauen, dann sieht man, dass es bei den Erkrankungen Häufungen im Alter zwischen 50 und 60 gibt, bei den Todesfällen eher so zwischen 70 und 90. Wenn man das jetzt aber mit der zugrunde liegenden Bevölkerung in Relation setzt, was man aus demographischer Perspektive natürlich immer machen sollte, und die verlorene Lebenszeit je 100.000 Personen in der Altersgruppe berechnet, dann sieht man ein anderes Bild. Da sieht man nämlich sowohl bei den Erkrankten, als auch bei den Gestorbenen besonders viel Lebenszeit ab dem Alter 90, die eben bei Älteren dann verloren geht.

Da muss ich jetzt nochmal zwischen fragen: bezieht sich das auf die Erkrankung mit Corona oder erstmal Allgemein?

Jetzt hab ich erst einmal von Covid-19 Fällen gesprochen, nicht von unserer grundsätzlichen Analyse. Also das machen wir allerdings auch, wir setzen unsere Fälle auch in Relation zu anderen Erkrankungen. Also insbesondere bei der Sterblichkeit kann man das sehr schön machen, weil wir die Sterblichkeit auch umfassend für alle Todesursachen berechnen und für die komplette Todesursachenstatistik. Deswegen können wir ganz gut sehen, in welchem Zeitraum sich die Covid-Sterblichkeit ähnlich verhalten hat, wie bei anderen Erkrankungen, oder wo besonders viele Lebensjahre verloren gingen. Wir erinnern uns ja alle an diesen Piek Ende März/Anfang April und auch noch den ganzen April durch und dann ging es Anfang Mai so langsam wieder runter. Da sind leider auch sehr viele Leute verstorben und die haben dann natürlich auch dazu beigetragen, dass da sehr viel Lebenszeit verloren ging.

Und wie gehen Sie in Ihrer Arbeit damit um, mit dem durchaus öffentlichen Diskurs, dass Verstorbene, die an Covid-19 verstorben gemeldet werden, möglicherweise nicht direkt aufgrund der Krankheit verstorben sind, sondern aufgrund einer Vorerkrankung?

Das ist natürlich dem Sterbegeschehen allgemeinen inhärent. Wir haben das nicht nur bei Covid-19, sondern bei vielen anderen Todesursachen auch, dass insbesondere ältere Menschen selten an nur einer Sache sterben und dass da zum Beispiel eine klare Zuordnung möglich ist. Wir haben das ganz oft, dass multimorbide Menschen in sehr hohem Alter natürlich versterben und wir nicht mehr hundertprozentig zuordnen können, dass die eine Krankheit nun stärker war, als die andere. Was wir hier im Projekt im Allgemeinen machen, und das gilt nun nicht nur für Covid-19 sondern auch für alle anderen Erkrankungen, dass wir jeden Menschen in unseren Berechnungen die gleiche Lebenserwartung zugestehen. Das heißt, wir machen keine Differenzierung, ob der Mensch Vorerkrankungen hatte oder nicht. Zu einem gewissen Grad können wir das ja sogar in den Meldedaten abbilden, aber auch aus ethischen Überlegungen haben wir uns dagegen entschieden. Wir haben das lange diskutiert, aber grundsätzlich ist es ganz schwer zu sagen, wann hätte jetzt auch eine Begleiterkrankung oder eine andere Erkrankung zum Tod geführt, das kann man am Ende gar nicht mehr so genau sagen. Wie soll man das auch auseinander rechnen? Dementsprechend ist es auch sehr schwer, das zu quantifizieren. Rein methodisch, aber auch inhaltlich, ist es schwierig zu sagen, „Jemandem, der jetzt zwei Erkrankungen hatte, gestehe ich sozusagen weniger Restlebenserwartung zu als jemand anderem.“. Aber da gibt es grundsätzlich im ganzen Bereich der Burden of Disease-Berechnungen auch international und auch europaweit Diskussionen, wie man das berechnen sollte. Aber wir haben uns dagegen entschieden, das heißt wir gehen da für alle Sterbefälle in dem gleichen Alter auch von der gleichen Restlebenserwartung aus.

Ich hab auch gerade Ihre Forschung hier vorliegen. Ist natürlich schwer in einem Podcast, aber ich finde diese geclusterten Übersichten immer so faszinierend, die Sie da machen, oder die mit zu Ihrer Forschung veröffentlich werden. Gehört das direkt zu Ihrem Projekt dazu?

Genau, in unserem Projekt beschäftigen wir uns mit der Mortalität, also der Sterblichkeit für Deutschland voll umfassend, das heißt, wir gucken uns die gesamte Sterblichkeit an. Von auch ganz kleinen Erkrankungen, bis sehr großen und wollen für diese Erkrankungen sowohl die Fallzahlen, als auch die Berechnungen publizieren. Da sind wir auch kurz vor der Fertigstellung. Das wir bis Ende des Jahres vermutlich publiziert werden. Bei den Erkrankungen haben wir eine Auswahl getroffen, die uns im Moment auch in der ersten Projektlaufzeit auf 18 Erkrankungen beschränkt. Grundsätzlich ist es unser Ziel, bei den besonders großen und wichtigen umfassend für Deutschland darzustellen: „Woran sterben Leute?“, „Woran erkranken Menschen?“ und „Wieviel Lebenszeit geht verloren?“. Ich glaube, das Schöne bei der Betrachtung der Lebenszeit und nicht so sehr den Fallzahlen ist, dass  sich manchmal eben doch, dass sich manchmal die Dinge umkehren. Wir haben Erkrankungen, die sehr spät im Leben auftreten und auch sehr spät im Leben zum Tod führen und dementsprechend gar nicht so viel Lebenszeit kosten. Wir haben auch Erkrankungen, die recht früh im Leben auftreten und dementsprechend natürlich eine ganz andere Auswirkung haben, weil Menschen sehr früh sterben. Insbesondere dieses Zusammenbringen ist, glaube ich, ein großer Vorteil unseres Projektes. Das hat glaube ich in dem Umfang für Deutschland bisher keiner gemacht. Am Ende kommen wir auf ganz viele verschiedene Daten, wo wir uns auch genau überlegen müssen, wie wir sie am besten und schön darstellen. Eine Kachelgrafik wäre eine Sache, die man damit gut machen kann, zum Beispiel, genau.

Und welche Krankheit trägt dann die meiste Last bisher in Ihren Forschungen?

Also insgesamt haben wir natürlich die Klassiker, die wir jetzt auch erwarten würden. Im Bereich der Herzerkrankungen geht natürlich sehr viel Lebenszeit verloren. Krebserkrankungen, das variiert zwischen Männern und Frauen, weil nun Brustkrebs bei Männern keine große Rolle spielt. Alzheimer und Demenzen spielen natürlich auch, und vor allem in den höheren Altersgruppen, eine große Rolle,  da es eine sehr prominente Erkrankung ist. Aber ich glaube, es gewinnt nochmal an Gewicht, wenn man sich auch anguckt, was es an Lebenszeit bedeutet sozusagen. Das kann dann natürlich auch gut ein Indikator dafür sein: „Wo sind Präventionspotentiale?“, „Wo müsste man was tun?“ und „Welche Sachen muss man vielleicht auch noch stärker bekämpfen?“ oder „Wo muss man noch stärker aktiv werden?“.  Was vielleicht auch noch ein großer Vorteil unseres Projektes ist, ist dass wir das regionalisiert machen und nicht nur auf Bundesländerebene, sondern noch eines tiefer, auf Eben der Raumordnungsregionen. Das sind in Deutschland 96 Stück. Für Kreise reichen die Daten leider manchmal nicht aus, das heißt, so weit können wir nicht gehen, aber auch auf den Raumordnungsregionen kann man schon sehr schön spezifisch Unterschiede sehen. Das ist natürlich auch das, was wir jetzt bei dem Covid-19 Geschehen sehen. Wie zu erwarten; in den Orten an den Bereichen, wo es die Hotspots gab, dass da auch deutlich mehr Fälle sind und schnell Lebenszeit verloren ging. Aber ich glaube gerade die Regionalisierung ist ein riesen Vorteil von unserem Projekt.

Ja auf alle Fälle. Was ist der besondere Beitrag der Demografie für Ihre Forschung?

In unserem Projekt kommen für mein Gefühl unterschiedliche demografische und epidemiologische Methoden zusammen. Insbesondere im Bereich der Mortalitätsanalysen machen wir natürlich ganz klassische demografische Sachen. Wir berechnen die Lebenserwartung, die Sterblichkeitsraten und wenden natürlich auch Methoden der Standardisierung an. Eben nach Alter, oder auch, um die Regionen miteinander vergleichen zu können. Das finde ich, sind ganz klassische demografische Methoden.

 Und noch im Nachhinein von Ihrem Projekt… das wird quasi Ende des Jahres abgeschlossen, sagten Sie?

Grundsätzlich läuft unser Projekt bis März 2021 und wir werden bis dahin unterschiedliche Sachen publizieren. Wir sind jetzt mit der Sterblichkeit ein bisschen früher dran, als mit den Erkrankungen und werden da bis Ende des Jahres vermutlich, wenn alles gut läuft, unsere Ergebnisse veröffentlichen. Das heißt, wir teilen die ganze Todesursachenstatistik in gewisser Weise nach Todesursachengruppen. Das heißt, wir fassen Erkrankungen oder IECD-Codes zusammen und bilden Gruppen von Erkrankungen beziehungsweise Todesursachen und berechnen für eben diese Todesursachen, nach Alter und Geschlecht verlorene Lebenszeit. Das machen wir in unterschiedlicher Detailtiefe und das kann man dann auch hoffentlich in unserer Darstellungsweise am Ende unterschiedlich auswählen. Das heißt, wir versuchen diese Daten auch allen zugänglich zu machen, über eine Website und dann sollte möglich sein, zusätzlich zu gucken: „Ok, die Krebserkrankung xy, wie verteilt die sich in Deutschland und wie ist die in einer bestimmten Altersgruppe in der Raumordnungsregion und in der anderen, oder eben auf Bundeslandebene?“. Damit werden wir jetzt ein bisschen früher dran sein mit diesen Mortalitätsanalysen und dann mit diesen Erkrankungsanalysen bis März 2021 und werden dazu dann auch verschiedene Papiere veröffentlichen. Da sind wir jetzt sozusagen gerade in der finalen Phase. Das ist auch ganz spannend.

Das heißt, Ihre Ergebnisse sollen einsehbar sein über die Internetseite, wie Sie gesagt haben und was wäre dann im nächsten Schritt? Welchen Beitrag könnte Ihre Forschung noch weiterführend haben?

Ganz grundsätzlich ist unser Projekt am RKI eingebettet in ein Fachgebiet zur Gesundheitsberichterstattung. Das heißt, was uns natürlich grundsätzlich im Fachgebiet beschäftigt, ist über die Gesundheit der Bevölkerung zu berichten und Daten dazu zu sammeln und bereit zu stellen. Grundsätzlich kann man natürlich bestimmte Erkrankungen oder auch Todesursachen nur bekämpfen, wenn man weiß, wie sie überhaupt in Deutschland verteilt sind und welche Altersgruppen, welche regionalen Gruppen hier relevant sind. Dementsprechend hoffen wir natürlich, dass wir da einen Beitrag leisten können auf einer grundsätzlichen Ebene der Prävention und der Krankheitsbekämpfung. Eben diese ganzen Daten bereitzustellen, die dann hoffentlich genutzt werden können, um bestimmte Krankheiten zu bekämpfen und sich bestimmten Themen stärker zu widmen. Nur, wenn ich weiß, wie die gesundheitliche Lage ist, kann ich auch was dafür tun.

Ja super spannend. Und wenn Sie dann dieses spezielle Projekt abgeschlossen haben. Können Sie uns da schon mal einen Einblick geben, wird es noch Projekte in diese Richtung geben?

Ja da haben wir natürlich immer die Hoffnung. Manchmal kommen dann ja auch Sachen überraschend, wie die Covid-19-Geschichte, wo vor einem Jahr natürlich auch noch keiner dran gedacht hätte und plötzlich wird das auch ein ganz zentraler Teil der eigenen Arbeit. Man weiß dann manchmal nicht, wie sich das alles weiterentwickelt. Wir haben natürlich aus dem Projekt heraus auch die Hoffnung, dass es verlängert oder auch bestätigt wird, weil es noch sehr viele Aspekte gibt, die man betrachten kann. Also zum einen werden natürlich auch die Todesursachenstatistiken jedes Jahr aktualisiert und es gibt immer neue Daten. Zum anderen haben wir auch erstmal nur eine Auswahl an Erkrankungen betrachtet und können hier noch sehr viel mehr betrachten. Vor allen Dingen ist ja auch wichtig, dass alles zusammen zu bringen und vielleicht auch noch stärker in Richtung einer Datengrundlage, die auch dann für Entscheider vor Ort relevant ist zu wirken und das alles so einzubetten. Also auch im Bereich der Visualisierung; wie stellt man die Ergebnisse dar? Da ist noch sehr viel Potential, was man alles noch im Rahmen des Projektes machen könnte. Das wird spannend und hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie das dann so weiter geht.

Da wollen wir mal die Daumen drücken.

Ja genau und eines wollte ich noch ergänzend sagen; was natürlich sehr grundlegend im Bereich der Covid-19 Erkrankung ganz spannend sein wird und wo es in zwei, drei Jahren erst Daten geben wird, ist natürlich auch wie sich das andere Krankheitsgeschehen und wie sich auch das andere Sterbegeschehen verändert hat. Wir wissen ja jetzt schon, dass es aufgrund der eingeschränkten Mobilität vermutlich weniger Straßenverkehrsunfälle gab und dementsprechend auch weniger Sterblichkeit in diesem Bereich. Wir haben alle auch gehört, dass es möglicherweise weniger Menschen gab, die aufgrund von Schlaganfall oder Herzinfarkt im Krankenhaus gelandet sind. Das könnte natürlich sein, dass das die Sterblichkeit erhöht hat, weil Leute zu spät gegangen sind. Könnte aber auch sein, dass Leute aus unterschiedlichen Gründen eine geringere Sterblichkeit in einigen Bereichen hatten und eine geringere Erkrankung. Ich glaube, das alles dann zusammen zu puzzeln und sich an zu gucken, wie sich diese eine Erkrankung auf viele andere Sachen ausgewirkt hat, das wird noch ein sehr spannender Bereich werden in den nächsten Jahren.

Gehören dazu auch Folgeerkrankungen? Wenn man gerade in einem hohen Alter jetzt an Personen denkt, die eine Covid-19 Erkrankung überlebt haben, dass das sicherlich auch diese Schwächung des Körpers oder Gesundheitszustandes sich vielleicht auch noch weiter auswirken könnte. Gehört das auch dazu?

Das auf jeden Fall auch. Da stehen wir ja alle ganz am Anfang, weil wir auch gar nicht wissen, das wird ja auch diskutiert, ob das Auswirkungen auf das Gehirn hat, auf das Herz oder so weiter. Ich glaube das wird auch sehr spannend sein, inwiefern wir da Sachen bobachten können und sich auch langfristig sich Zusammenhänge ergeben. Das ist auch im Moment ein bisschen schwierig bei dieser Berechnung der verlorenen Lebenszeit aufgrund von Covid-19, weil wir natürlich nicht explizit wissen, „Was bedeutet das alles?“, „Was sind die langfristigen Auswirkungen?“, „Wie viel Zeit geht den Menschen wirklich verloren?“. Das sind vielleicht nicht nur die 14 Tage, wo er Atembeschwerden hatte, sondern es ist möglicherweise etwas, was sich über Jahre zieht und das wird auf jeden Fall ein spannender Bereich werden.

Und genau deswegen wäre die langfristige Sicht und die Weiterführung solcher Art von Projekten super wichtig.

Ganz genau.

Ok. Das finde ich doch ein schönes Schlusswort, auch wenn es jetzt von mir kam, aber ich hab das einfach nur mal zusammengefasst. Dann möchte ich mich auch bedanken für Ihre Zeit und den spannenden Einblick in die Arbeit am Robert Koch-Institut und explizit bei Ihrer Forschung. Ich wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Tag.

Vielen Dank, Ihnen auch.

 

Die thematisierten Forschungen von Dr. Annelene Wengler:

Rommel, A., von der Lippe, E., Plaß, D. et al. BURDEN 2020—Burden of disease in Germany at the national and regional level. Bundesgesundheitsbl 61, 1159–1166 (2018). doi.org/10.1007/s00103-018-2793-0

Wengler, A., Rommel, A., Plaß, D. et al. ICD-Codierung von Todesursachen: Herausforderungen bei der Berechnung der Krankheitslast in Deutschland. Bundesgesundheitsbl 62, 1485–1492 (2019). doi.org/10.1007/s00103-019-03054-1

Weitere Informationen:

1 Informationen des Robert Koch-Institutes zur Studie Burden 2020: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Krankheitslast/burden_node.html

2 Informationen zur Studie Global Burden of Diseases:  http://www.healthdata.org/gbd

3 Das Wissenschaftliche Institut der AOK: https://www.wido.de/

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Folge 1: Covid-19-Forschung am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Telefoninterview mit Dr. Patrizio Vanella

 

Demographie und Gesellschaft im Fokus Folge 1: Covid19-Forschung: Telefointerview mit Dr. Patrizio Vanella

Wir begrüßen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer zur Podcastreihe der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Unser erster Gast ist Herr Dr. Patrizio Vanella. Er wird seine aktuellen Forschungen in Bezug auf die Covid-19-Pandemie im Bereich der Wirtschaft, Mortalität und Epidemiologie vorstellen. Dr. Patrizio Vanella ist derzeit am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig in der Abteilung für Epidemiologie als Statistiker beschäftigt. Teil seiner Forschungstätigkeit ist die demographische und epidemiologische Prognostik. Aufgrund der aktuellen Situation können wir leider nur ein Telefoninterview mit ihm durchführen. Viel Spaß beim Zuhören!

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Hallo Dr. Vanella.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben, an unserer Podcastreihe teilzunehmen. Würden Sie vielleicht damit starten, einen kurzen Überblick über den Inhalt Ihrer Forschung zu geben?

Ja, sehr gerne. Aktuell, wie man sich vielleicht vorstellen kann, ist der Fokus bei uns am HZI1 sehr stark auf der Forschung zur Covid-19-Pandemie. Unsere Forschungsgruppe hat dabei das Ziel, internationale Studienergebnisse und Daten zusammenzubringen. Womit wir dann Rückschlüsse ziehen wollen, welche Folgen die Pandemie hat. Ich bin persönlich an einer Reihe von recht heterogenen Studien beteiligt. Dabei handelt es sich zum einen um mathematische Modellierungen des Infektionsgeschehens in Deutschland und auf Bundeslandebene, sowie der kurz- und mittelfristigen volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie gegenüber dem, was Gegenmaßnahmen an volkswirtschaftlichen Kosten verursachen könnten. Andere Studien, an denen ich auch beteiligt bin, sind mehr epidemiologischer Natur und versuchen sich an der Erklärung der internationalen Unterschiede der Prävalenz ernster Verläufe der Erkrankung, sowie der Mortalitätsraten. Im Allgemeinen ist der Informationsbedarf selbstverständlich riesig im Moment, da es sich hier um ein zuvor unbekanntes Virus handelt, das auch sehr signifikante Folgen hat und für das auch noch kein Impfstoff vorliegt. Wir verstehen es als unsere Aufgabe, mit unseren Kenntnissen und Fähigkeiten für diese Ausnahmesituation einen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten. Das können wir natürlich am besten, indem wir die Öffentlichkeit informieren und wissenschaftliche Grundlagen für politische Entscheidungen liefern. Entsprechend beschäftigen wir uns mit Themen, die in der öffentlichen Diskussion akut sind, um wissenschaftlich fundierte Beiträge zu dieser Diskussion beizusteuern.

Die aktuelle Pandemie ist ja besonders dadurch geprägt, dass viele Leute sich die aktuellen Fallzahlen anschauen können online, zum Beispiel beim Robert Koch-Institut (RKI). Welche Daten verwenden Sie denn für Ihre Forschung?

Die von Ihnen schon angesprochenen Daten des Robert Koch-Institutes, mit denen arbeiten wir auch sehr viel. Das sind auch die Daten, mit denen wir unser Infektionsmodell füttern. Das sind täglich verfügbare Daten zu Meldungen zu Infektionen und Todesfällen, die wir dann noch unterfüttern mit öffentlich verfügbaren Populationsdaten, die man auf der Datenbank der Regionalstatistik finden kann. Für unsere ökonomische Studie mit dem ifo² greifen wir auf ökonomische Daten zurück, die das ifo aus Arbeitsmarkbefragungen selbst generiert hat. Für unsere anderen Arbeiten, epidemiologischen Studien, arbeiten wir mit Daten aus publizierten Studien oder Berichten der nationalen Gesundheitsbehörden, die wir entsprechend dann extrahieren und zusammenbringen. Das sind in erster Linie Daten zur Schwere des Krankheitsverlaufs der Studienpopulation, also wie viele Personen nach demographischen Merkmalen oder bestimmten Vorerkrankungen stratifiziert, hospitalisiert wurden, Intensivpflege benötigten und final entweder verstorben oder genesen sind.

Da kommen einem gleich die in den Medien aufgegriffene Diskussion über das R, also die Reproduktionszahl, oder verschiedenen Inkubationszeiten und Datenübermittlungen in den Kopf. Vor welche Herausforderung  stellt Sie das in Ihrer Forschung?

Es gibt da einige Schwierigkeiten. Es gibt immer wieder die Diskussion, dass die R-Werte sehr unterschiedlich berechnet werden zwischen dem RKI und uns. Das liegt unter anderem daran, dass wir den Infektionszeitpunkt in der Regel nicht genau kennen und dementsprechend die Daten, mit denen wir arbeiten, sind dann die Daten der Meldung. Die haben wiederum den Fehler, dass die Meldung in der Regel erst dann stattfindet, wenn wir schon erste Symptome hatten und die Person sich eine gewisse Zeit davor auch angesteckt hat. Dann gibt es neben den Meldungsdaten noch die sogenannten Referenzdaten. Das sind in der Regel Schätzzahlen des RKI, wann sich die Personen infiziert haben müssten, die entsprechend dann auch mit einem gewissen Fehler behaftet sind. Das ist sehr problematisch. Was wir relativ gut wissen, sind natürlich die Todesfallzahlen. Die sind ziemlich genau. Wobei, wenn wir uns das im internationalen Vergleich ansehen, durchaus Unterschiede da sind, weil manche Länder verstärkt testen und dann Todesfälle die sie feststellen, wenn eine Infektion mit dem Virus vorlag, als Tod durch Covid vermerken. Obwohl es durchaus sein kann, dass zwar eine Infektion vorlag, aber Tatsache die Covid-Erkrankung  nicht die Todesursache war. Auch der internationale Vergleich zwischen den Daten ist sehr schwierig, weil die demografischen Daten vorher sehr unterschiedlich berichtet werden. Viele Länder berichten nichts zu den Altersstrukturen der Infizierten, der Todesfälle. Manche berichten keine Unterscheide zwischen den Geschlechtern, obwohl da sehr signifikante Unterschiede sind in der Schwere. Auch bei den Ländern, die zum Alter berichten, da haben wir auch eine Studie zu gemacht, da sind wiederum die Altersgruppen sehr unterschiedlich was es dann wieder schwer macht, sie zu vergleichen. Dann sind viele Größen, die sich überhaupt nicht beobachten lassen in den Daten. Wie gesagt, wir wissen nicht, wie viele Leute tatsächlich infiziert sind. Es gibt viele Fälle, vor allem in den jüngeren Altersgruppen, bei denen wir wissen, dass diese nicht so vulnerabel sind, dementsprechend nur mit leichten Symptomverläufen oder teilweise auch asymptomatisch sind. Die werden dann häufig überhaupt nicht in der Statistik aufgeführt. Von daher haben wir da viele Verzerrungen in den Daten. Das ist auch eine große Herausforderung, damit irgendwie umzugehen.

Meine nächste Frage wäre, mit welchen Methoden ist es Ihnen möglich, Ergebnisse aus diesen Daten zu ziehen? Würden Sie uns mal, vielleicht auch für Fachfremde, einen kurzen Überblick geben?

Die Methodiken, die wir verwenden, sind entsprechend der Forschungsfragen auch sehr unterschiedlich. Die Modellierungsstudien der Gruppe von Michael Meyer-Herrmann³ verwenden ein mathematisch-epidemiologisches Modell, das nennen wir SECIR-Modell. Die Idee dabei ist, dass wir ausgehend von einer Startpopulation simulieren, wie sich bestimmte Personengruppen in der Bevölkerung in ihren Gesundheitszuständen verändern. SECIR steht für Susceptible (empfänglich), Exposed (ausgesetzt), Carrier (Träger), Infected (infiziert), Removed (genesen, verstorben). Dabei gibt es gewisse Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den fünf Zuständen, die sich dann entweder aus den Daten schätzen lassen oder durch vorige Studienergebnisse informiert werden. Das ist auch etwas, wo dann die Schwierigkeiten mit den Daten eintreten. Sie wissen ja beispielsweise nicht, wie viele Leute „Carrier“ sind. Das können wir nicht beobachten. Die Modellierungen, die ich auch selbst durchführe, da benutze ich sehr klassische Ansätze aus der Ökonometrie, Statistik und der Demographie: Regressionsmodelle, Hauptkomponentenanalyse, Zeitreihenmodelle. Ich kann vielleicht noch kurz auf die Hauptkomponentenanalyse eingehen, weil viele damit nicht vertraut sind: Das ist eine Methode, bei der wir die Originaldaten zu neuen Variablen transformieren, die wir dann Hauptkomponenten nennen. Es gibt dazu auch Fachliteratur, die die geneigten Leser sich durchaus zu Gemüte führen können. Es gibt ein sehr schönes deutschsprachiges Lehrbuch von Andreas Handl4. Ich habe selbst auch eine Reihe von Publikationen verfasst, die sich auf die Anwendung der Methode in der Demographie beziehen5. Ganz kurz gesagt: Hauptkomponenten sind Indizes, mathematisch würden wir dazu sagen „Linearkombinationen“,  aus den Originalvariablen, die dann entsprechend zu den Originalvariablen korreliert sind, jedoch untereinander unkorreliert sind. Das ermöglicht Analysen hochdimensionaler statistischer Probleme, unter Einbezug der Korrelation der Originalvariablen. Bei Zeitreihenmodellen handelt es sich im Wesentlichen um eine Mischung aus sogenannten klassischen Zeitreihenmodellen, wie sie traditionell zum Beispiel bei Konjunkturprognosen gerne genutzt werden und ARIMA-Modellen, wie sie aus dem finanzstatistischen Umfeld stammen. Die Modelle schätzen dabei Trends in den fraglichen Variablen und quantifizieren die Stochastizität der Zeitreihen. Und dann schließlich, im Rahmen der Metaanalysen die wir machen, hab ich zum Beispiel mit Mixed-Effects-Modellen gearbeitet. Dafür werden einfach Ergebnisse aus multiplen Studien gepoolt, um statistisch Einflüsse verschiedener exogener Variablen auf eine Zielvariable unter Einbezug der Unterschiede in den Studienpopulationen zu testen.

Das war eine ganze Menge. Aber ein schöner Überblick für weniger fachkundige Hörer. Wir werden auf der Internetseite der DGD auch nochmal eine schriftliche Version hochladen, das heißt, man kann es sowohl nochmal nachhören, als auch nochmal nachlesen. Sie haben ja schon angesprochen, dass Sie an vielen thematisch durchaus verschiedenen Studien zu Covid-19 arbeiten und welche Ergebnisse haben sich da gezeigt?

Ich versuch es sehr grob, aber gleichzeitig verständlich. Zum Ersten lässt sich sagen, das ist ja auch schon ein bisschen durch die Medien gegangen: es gibt so ein gewisses Infektionsniveau, wir reden da vom Rt-Wert oder dem Reproduktionsniveau, bis zu welchem die Epidemie durch das Gesundheitssystem beherrschbar scheint. Es muss aber natürlich einschränkend gesagt werden, dass dieser Wert sehr volatil ist. Was wir ja auch beobachten: Durch lokale Ausbrüche, die wir in der letzten Zeit auch immer wieder in den Medien durchaus hatten, kann dieser kurzzeitig stark in die Höhe schnellen, geht dann auch schnell wieder runter. Bei unserer Studie mit dem ifo konnten wir dann zeigen, dass es aus ökonomischer Sicht sinnvoll ist, Maßnahmen gegen Covid so auszutarieren, dass wir das Reproduktionsniveau unter 1 halten, ohne dabei die Wirtschaftsaktivität zu sehr einzuschränken. Man muss dazu auch sagen: Die bisher verfügbaren Daten erlauben es statistisch nicht, Rückschlüsse auf die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen zu schließen. Dazu bräuchten wir ein experimentelles Umfeld mit entweder zwei vergleichbaren Gruppen, die sich nur in den Maßnahmen unterscheiden würden, oder Zeitreihendaten mit ausreichender Länge, in denen spezifische Maßnahmen separat getestet würden. Qualitativ sprechen die Ergebnisse aus meiner Sicht aber stark dafür, dass das Gesamtpaket der Maßnahmen sehr wirksam war. Das Ansteigen des Reproduktionsniveaus nach den Lockerungen der Maßnahmen spricht meiner Meinung nach ja auch klar dafür. Das wird in der öffentlichen Diskussion gerne falsch dargestellt, weil sich nicht relative Werte angeschaut werden, sondern absolute. Auch da mal ein relativ banales Beispiel: wenn wir Rt von 1 und eine Ausgangssituation von 100 Infizierten haben, dann werden diese 100 Infizierten, 100 weitere Personen anstecken. Anderes Beispiel: wenn wir 10.000 Infizierte haben, gleiches Rt, dann werden wir 10.000 weitere Infizierte haben. Die Dynamik ist in beiden Fällen gleich schlecht, impliziert eine theoretisch unendlich andauernde Epidemie. Wenn wir da nur auf die absoluten Zahlen schauen, dann sieht der erste Fall weniger dramatisch aus. Womit wir dann aber die tatsächliche Dynamik falsch einschätzen, weil das Wachstum im Endeffekt gleich stark ist, relativ. Weitere Ergebnisse aus unseren anderen Studien, die vielleicht ganz interessant sind:  Schlüsse lassen sich auf jeden Fall ziehen, dass Männer ceteris paribus vulnerabler sind.  Heißt im Endeffekt: wenn alle anderen Umstände gleich sind, sehen wir, dass Männer signifikant vulnerabler sind als Frauen und wir sehen, dass das Mortalitätsrisiko, ähnlich wie das Pflegerisiko interessanterweise, ab dem Alter von ungefähr 70 massiv zunimmt und Personen mit Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Kardiovaskulären Erkrankungen einem signifikant höheren Mortalitätsrisiko unterliegen.

Aber besonders denke ich mal, das wird aus den von Ihnen erwähnten Herausforderungen deutlich, dass ein Blick auf die bloßen Infektionszahlen nicht reicht, um sich einen Überblick über die Dynamiken zu verschaffen. Wie würden Sie zusammenfassen, welchen Beitrag hat Ihre Forschungen für die Demografie?

Ich würd es eher anders herum drehen: Welchen Betrag die Demografie haben kann auf die Forschung. Ich kann es auch ein bisschen provokativ ausdrücken: Man sieht es immer wieder, dass manche selbst ernannten Experten die Diskussion sehr verzerren. Vor allem in Bezug auf die Sinnhaftigkeit der politischen Maßnahmen, ohne, dass diese aber die statistische Qualifikation aufweisen für die fundierte Bewertung der Lage. Wobei sie sich durch ein Thema, das gerade Mode ist, profilieren wollen. Das sind Punkte, wo die Allgemeinbevölkerung dadurch, dass sie nicht die methodische Ausbildung hat, nicht unterscheiden kann, „Was sind jetzt gute, was sind jetzt schlechte Studien?“. Die Demografie könnte sich dabei, aus meiner Sicht sehr sinnvoll einbringen, da wir eine Branche sind, die über das Handwerkszeug verfügt, in dem Fall mit Epidemiologen und Virologen, methodische Expertise einzubringen. Demografische Aspekte werden aus meiner Sicht in der Epidemiologie völlig ignoriert oder nur am Rande erwähnt. Da wird in diesem Fall nur mit sehr vereinfachten Annahmen gearbeitet, was darin resultiert, dass die entsprechenden Analysen nur sehr unzureichend sind. Liegt aus meiner Sicht an der Divergenz der Methodenausbildung der verschiedenen Disziplinen. Zum anderen auch an den verschiedenen zeitlichen Foki. Wir Demografen tendieren dazu, gesellschaftliche Entwicklung in der langen Frist zu durchdenken. In der Epidemiologie hingegen, wird häufig eher in der kurzen oder mittleren Frist gedacht, um die klinische Praxis und die Gesundheitspolitik akut zu informieren. Ich denke daher in der Tat, dass das ein sehr interessantes Forschungsthema ist, mit dem ich mich abseits der Covid-19-Forschung beschäftige: Dass detailliertere, aktuelle demographische Informationen in Form von tatsächlichen Daten oder Prognosen in der kurzen Frist, sowie aktuellere Daten, sehr hilfreich wären, um auch in der Epidemiologie genauere Auswertungen durchführen zu können. Ich habe generell das Gefühl, dass meine demographische Brille, neben den etwas anderen Methodenkenntnissen, auch eine andere Philosophie mit sich bringt und als sehr positiv und erfrischend wahrgenommen wird. Damit eine schöne Ergänzung ist, für das zweifellos viel höhere, inhaltlich gesundheitswissenschaftliche Verständnis der Epidemiologen und Virologen.

Sind wir wieder bei der Interdisziplinarität von der wir vorhin auch schon gesprochen haben, die ganz wichtig ist in diesem Bereich der Forschung. Auf diese Forschung, die sie schon angesprochen haben, weiter aufbauend: wird es da weiterführende Forschungsprojekte geben?

Naja, also ich verrate immer wenig, weil sich bei uns auch sehr viel, sehr akut ändert. Aber ich sage mal so: die Sachen, die vielleicht auch kein Geheimnis mehr sind, da kann ich schon ein bisschen drauf eingehen. Generell kann man sich auch vorstellen, werden wir sicherlich mit dem Thema noch eine ganze Weile beschäftigt sein. Gleiches gilt entsprechend für mich persönlich dann auch. Es läuft noch, das dürfte bekannt sein, eine von unserem Abteilungsleiter Gérard Krause6 geleitete, deutschlandweite Antikörperstudie an. Bei der werde ich sicherlich mit einigen statistischen Auswertungen der dabei generierten Daten noch sehr beschäftigt sein. Will natürlich aber nicht verhehlen, dass es nicht meine Intention ist, ein Covid-19 Experte zu werden, das überlasse ich dann lieber Virologen, Epidemiologen, Biometrikern. Mein Ziel ist es eher nicht, nur Forschungsergebnisse für die nächsten 12 Monate zu erzielen. Von daher versuche ich in diesem Rahmen, den wir haben, methodische Ansätze zu entwickeln und Schlüsse zu ziehen, die sich auf andere Problemstellungen übertragen lassen. Aus demographischer Sicht wäre es sicherlich interessant, sich die mittelfristigen und langfristigen Effekte dieser Pandemie auf die demographische Entwicklung anzusehen. Das ist aber in der Tat eine Fragestellung, die aus statistischer Sicht seriös erst in ein paar Jahren beantwortet werden kann. Wobei ich da sicher auch noch so ein paar Ideen im Kopf hätte. An denen mangelt es sowieso eher nicht.

Also könnte man zusammenfassen: Es bleibt spannend. Dann bedanke ich mich erst mal an dieser Stelle ganz herzlich bei Ihnen Dr. Vanella.

Ich bedanke mich auch. Vielen Dank für das Interesse. Hat mich sehr gefreut über die Anfrage. Hoffe auch das war für die Hörer ein recht spannendes und informatives Gespräch.

Die thematisierten Forschungen von Dr. Patrizio Vanella:

Dorn, Florian & Khailaie, Sahamoddin & Stöckli, Marc & Binder, Sebastian & Lange, Berit & Vanella, Patrizio & Wollmershäuser, Timo & Peichl, Andreas & Fuest, Clemens & Meyer-Hermann, Michael. (2020). Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechnung zur Eindämmung der Corona- Pandemie. Ifo Schnelldienst digital 6/2020.

Fernandez-Villalobos, Nathalie V. & Ott, Jördis J. & Klett-Tammen, Carolin J. & Bockey, Annabelle & Vanella, Patrizio & Krause, Gérard & Lange, Berit (2020). Quantification of the association between predisposing health conditions, demographic, and behavioural factors with hospitalisation, intensive care unit admission, and death from COVID-19: a systematic review and meta-analysis. [in Begutachtung].

Khailaie, Sahamoddin & Mitra, Tanmay & Bandyopadhyay, Arnab & Schips, & Marta & Mascheroni, Pietro & Vanella, Patrizio & Lange, Berit & Binder, Sebastian & Meyer-Hermann, Michael. (2020). Estimate of the development of the epidemic reproduction number Rt from Coronavirus SARS-CoV-2 case data and implications for political measures based on prognostics. 10.1101/2020.04.04.20053637.

Vanella, Patrizio & Wiessner, Christian & Holz, Anja & Krause, Gérard & Möhl, Annika & Wiegel, Sarah & Lange, Berit & Becher, Heiko. (2020). The Role of Age Distribution, Time Lag Between Reporting and Death and Healthcare System Capacity in Case Fatality Estimates of COVID-19. 10.21203/rs.3.rs-38592/v1.

Vanella, Patrizio & Basellini, Ugofilippo & Kuhlmann, Alexander & Lange, Berit (2020). Assessing International Excess Mortality in Times of Pandemics Based on Principal Component Analysis – The Case of COVID-19. [in Erstellung].

Weitere Informationen:

1 Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH (HZI): https://www.helmholtz-hzi.de/

2 Institut für Wirtschaftsforschung (ifo): https://www.ifo.de/

3 Prof. Dr. Michael Meyer-Herrmann, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH, System-Immunologie: https://www.helmholtz-hzi.de/de/forschung/forschungsschwerpunkte/
immunantwort-und-interventionen/system-immunologie/m-meyer-hermann/

4 Handl, Andreas (2010): Multivariate Analysemethoden. Theorie und Praxis multivariater Verfahren unter besonderer Berücksichtigung von S-PLUS. 2. Aufl. Springer VS.

5 Vanella, P.; Deschermeier, P. 2020: „A Probabilistic Cohort-Component Model for Population Forecasting – The Case of Germany.” Journal of Population Ageing. doi: 10.1007/s12062-019-09258-2.

Vanella, P.; Deschermeier, P. 2019: “A Principal Component Simulation of Age-Specific Fertility – Impacts of Family and Social Policy on Reproductive Behavior in Germany.“ Population Review 58(1): 78-109.

Vanella, P. 2018: “Stochastic Forecasting of Demographic Components Based on Principal Component Analyses.” Athens Journal of Sciences 5(3): 223-246.

Vanella, P.; Deschermeier, P. 2018: “A stochastic Forecasting Model of international Migration in Germany.” Familie – Bildung – Migration. Familienforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis. Tagungsband zum 5. Europäischen Fachkongress Familienforschung, herausgegeben von Kapella, O.; Schneider, N.F.; Rost, H. (S. 261-280). Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Vanella, P. 2017: “A principal component model for forecasting age- and sex-specific survival probabilities in Western Europe.“ Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft (German Journal of Risk and Insurance) 106(5): 539-554.

Prof. Dr. Gérard Krause, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH, Epidemiologie: https://www.helmholtz-hzi.de/de/nc/forschung/forschungsschwerpunkte/bakterielle-und-virale-krankheitserreger/epidemiologie/team/

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Unsere Podcast-Beiträge

 

Der Präsident der DGD, Prof. Dr. N. Schneider ist jetzt im „StatGespräch“ Podcast des Statistischen Bundesamtes zu hören.

Der Arbeits- und Fachkräftemangel beschäftigt Wirtschaft, Politik und Gesellschaft mit zunehmender Intensität. Für den Mangel gibt es mehrere Ursachen. Dabei spielen auch demografische Entwicklungen eine wichtige Rolle, sowohl was entstehende Lücken betrifft, als auch wenn es um die Aktivierung möglicher gesellschaftlicher und demografischer Potenziale für den Arbeitsmarkt geht. Wer fehlt eigentlich – und warum? Wie entwickeln sich Arbeitszeit und Renteneintrittsalter? Welche Rolle spielen Geschlechterfragen oder die Zuwanderung? Darüber sprachen in einer neuen Folge von „StatGespräch“, dem Podcast des Statistischen Bundesamtes, Prof. Norbert Schneider, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie und früherer Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, und Frank Schüller, Leiter des Referats „Arbeitsmarkt“ im Statistischen Bundesamt.

Der Podcast ist hier zu erreichen.

 

Unser Podcast „Demografie und Gesellschaft im Fokus“

Wir führen im Zuge der Forschungen zur Covid-19-Pandemie Interviews durch, die in Form eines Podcasts aufbereitet werden. Ziel ist es, demografische Forschung auch für Nicht-Wissenschaftler:innen verständlicher zu machen. Die etwa 20-minütigen Folgen und die Verschriftlichungen zum Nachlesen finden Sie hier.

Der Podcast der DGD e.V.

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interview: Sina Jankowiak

Folge 8: Das Geburtengeschehen in der Corona-Krise, Interview mit PD Dr. Martin Bujard

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Folge 7: Impfbereitschaft und Einstellung zu Alternativmedizin und Verschwörungstheorien, Interview mit Prof. Dr. Sonja Haug


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Folge 6: Die väterliche Beteiligung in der Corona-Krise, Interview mit Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld


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Folge 5: Covid-19 und Care-Arbeit, Interview mit Dr. Sonja Bastin


>>Podcast Folge 5 anhören
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Folge 4: Das Zusammenspiel von Geschlecht und Alter in der Covid-19-Pandemie, Interview mit Prof. Dr. Gabriele Doblhammer und Dr. Achim Dörre

  
>>Podcast Folge 4 anhören
> zur schriftlichen Version des Interviews

Folge 3: Sterblichkeit in der Covid-19-Pandemie, Telefoninterview mit Dr. Felix zur Nieden und Enno Nowossadeck

   
>>Podcast Folge 3 anhören 
> zur schriftlichen Version des Interviews

Folge 2: Covid-19-Forschung am Robert Koch-Institut, Telefoninterview mit Dr. Annelene Wengler


>> Podcast Folge 2 anhören
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Folge 1: Covid-19-Forschung am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Telefoninterview mit Dr. Patrizio Vanella


>> Podcast Folge 1 anhören
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Publikationen unserer Partner

 

CPoS veröffentlicht ausschließlich begutachtete wissenschaftliche Aufsätze zur Demografie und ihren Nachbargebieten und erreicht international sowie im deutschsprachigen Raum eine große interdisziplinäre Leserschaft. In den vergangenen Jahren haben hier führende Wissenschaftler:innen ihre Forschungsergebnisse veröffentlicht, darunter viele Mitglieder der DGD. Die Zeitschrift erscheint „Open Access“ und ist damit auch für alle Mitglieder der DGD kostenlos im Volltext zugänglich.

CPoS hat eine enge Kooperation mit der DGD vereinbart. Die Mitglieder der DGD sind ausdrücklich eingeladen, Beiträge zur Begutachtung einzureichen. Vorschläge für Themenhefte aus dem Kreis der DGD und ihrer Arbeitskreise sind stets willkommen. Weitere Informationen zur Zeitschrift und zur Beitragseinreichung finden sich hier.

 

Podcast „Bevölkerungsforschung – demografische Einblicke in sozialen Wandel“

 

 

Im Podcast berichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung über ihre Studien und Ergebnisse. Sie erläutern die Megatrends des sozialen Wandels in Deutschland, stellen ihre Ursachen dar und reflektieren über die Folgen des Wandels für Mensch und Gesellschaft. Zentrale Themen richten sich auf die Entwicklung der Lebenserwartung, das Pendelverhalten, die Binnenwanderungen und internationale Migration, ebenso wie auf die Entstehung und die Stabilität von Partnerschaften, Motive zur Familiengründung und die Zusammenhänge von Alltagsgestaltung, Lebenszufriedenheit und Gesundheit.

Zum Podcast geht’s hier.