Folge 5: Covid-19 und Care-Arbeit, Interview mit Dr. Sonja Bastin

Demografie und Gesellschaft im Fokus Folge 5:  Covid-19 und Care-Arbeit, Interview mit Dr. Sonja Bastin

Hallo und herzlich willkommen beim Podcast der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Wir befinden uns heute im Gespräch mit Frau Dr. Sonja Bastin rund um das Thema „Covid-19 und Care-Arbeit“. Das Gespräch wurde am 19.01.2021 aufgezeichnet. Zunächst ein paar Worte zu Frau Dr. Bastin1: Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Themen ihrer Forschung sind Lebenslauf, Familie und Arbeit und somit auch die private Care-Arbeit.

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Hallo Frau Bastin, wir freuen uns, Sie in unserer neuen Folge begrüßen zu dürfen. Im Zuge der Pandemie beschäftigen Sie sich mit der Care-Arbeit. Würden Sie uns bitte kurz erläutern, was genau dieser Begriff bezeichnet?

Ja, gern. Ich freue mich auch über die Einladung und, dass ich hier sprechen kann. Also im Deutschen ist der Begriff „Care-Arbeit“ am ehesten mit dem Begriff Sorgearbeit oder Reproduktionsarbeit zu übersetzen und wir unterschieden zwischen der bezahlten und der unbezahlten Sorgearbeit und gleichzeitig hängen aber beide Bereiche auf verschiedene Weise ganz eng miteinander zusammen, was dann in unserem Gespräch noch deutlicher wird. Zunächst mal sind mit unbezahlten Sorgearbeiten alle Tätigkeiten der Pflege, Zuwendung und Fürsorge für den eigenen Haushalt und seine Mitglieder, oder ehrenamtlich für andere Haushalte, gemeint: Zum Beispiel Kochen, Waschen, Putzen, Einkaufen, Kinder erziehen, Kranke versorgen. Im zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung2 beispielsweise wurden dann auch Arbeiten wie Gartenpflege, Reparaturen, Einkaufen oder Behördengänge gefasst – also ein sehr weiter Care-Begriff. Was dazu dann noch wichtig ist, ist, dass außerdem hier eine Einteilung unternommen wurde. Nämlich einmal in direkte Care-Arbeiten und unterstützende Care-Arbeiten. Es ist deshalb eine wichtige Unterscheidung, weil die direkten Care-Arbeiten im Grunde niemals aufschiebbar sind – sie fallen auch am Wochenende an, auch im Urlaub. Also; ich kann nicht mal eben ein paar Stunden oder auch Minuten aufschieben das Kind zu trösten, oder dem pflegebedürftigen Vater auf die Toilette zu helfen, während ich Reparaturen oder den Einkauf viel besser timen kann, sodass ich dann auch berufliche Termine oder das Socializing mit den Arbeitskollegen, oder auch einfach nur das einmal kurz Durchatmen, viel besser einflechten kann, wenn ich nur für diese unterstützenden Tätigkeiten verantwortlich bin. Beim Punkt Verantwortung ist dann noch ein ganz wichtiger weiterer Aspekt von Care-Arbeit zu nennen, der eigentlich Unsichtbarste, der sogenannte Mental-Load. Denn, die hochverantwortungsvolle Care-Arbeit birgt eben auch viel gedankliche und mentale Last, diese Tätigkeiten auch gut auszuführen, weil ich eben in hohem Maße verantwortlich bin für andere Menschen. Auch die mentale Last, diese ganzen Aufgaben zu organisieren. Sie erfordert ein hohes Maß an empathischer Kompetenz, an Gefühlsarbeit, weil sie so nah mit Menschen stattfindet. Auch deshalb sind die psychischen und seelischen Belastungen von Care-ArbeiterInnen sehr hoch. Das zusätzlich, weil, da kommen wir schon immer tiefer in die Zusammenhänge rein, unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht ausreichend Zeit für diese Arbeiten einräumt, sodass viele Dinge mental auch gleichzeitig aufeinanderprallen. Der Fokus liegt in unserem System auf der bezahlten Arbeit, der Erwerbsarbeit, was mit den neoliberalen kapitalistischen Strukturen zu tun hat, die sich darauf gründen, dass irgendwann mal beschlossen wurde; Arbeiten außerhalb des Haushalts, gerade industrielle, produktive Arbeit wird bezahlt, während Hausarbeit und Kindererziehung zu Hause stattfindet, traditioneller Weise von Frauen ausgeübt wird und unbezahlt bleibt. Gleichzeitig ist es aber so, dass all diese Arbeiten grundsätzlich auch professionalisierbar sind und dann werden sie eben auch vergütet. Das sehen wir in der externen Kinderbetreuung, in der Krankenpflege, bei Reinigungskräften, beziehungsweise bei allen haushaltsnahen Dienstleistungen.

Frau Bastin, das bringt mich ja zu dem nächsten Wort, was jetzt in der Pandemie sehr geprägt wurde, dieses „systemrelevante“. Was fassen Sie denn unter diesem Begriff?

Das ist ein Begriff der eigentlich zu Beginn des ersten Lockdowns aufgekommen ist und diejenigen Tätigkeiten bezeichnet hat, die man tatsächlich keinen Tag lang niederlegen kann, weil sie eben unsere Grundbedürfnisse betreffen. Gerade im Gesundheits- und Pflegesektor. Da standen dann plötzlich die im Rampenlicht, die sonst so wenig beachtet werden, weil ja offenbar das, was sie leisten, so wenig profitabel ist. Deswegen wurden sie lange so wenig beachtet. Allen wurde da dann plötzlich, und bislang leider eher folgenlos klar, wie abhängig wir von diesen Menschen sind; von den PflegerInnen auf den Intensivstationen, welche Auswirkungen es auf uns alle hat, dass die Kapazitäten da so gering sind und, dass die Arbeitsbedingungen und Löhne auch ausgerechnet für diese systemrelevanten Bereiche so ungenügend sind. Interessanter Weise, ist das Gleiche dann nicht mit dem Bereich der privaten Sorgearbeit passiert. Dorthin wurde und wird weitgehend noch immer, unkompensiert, oder zumindest alles andere als angemessen kompensiert, riesig viel mehr Sorgearbeit geschoben, indem Schulen und Kitas geschlossen wurden, ohne gleichzeitig und auch umgehend dafür zu sorgen, dass auch genug ökonomisch abgesicherte Zeit besteht, um diese Sorgearbeit ausführen zu können. Sogar die Bundesfamilienministerin hat ja noch im Mai gesagt, dass Homeoffice mit Kindern anstrengend sei, aber möglich. Sie hat damit sehr deutlich ausgesprochen, was in den Strukturen tief verwurzelt ist, nämlich, dass Sorgearbeit nicht als Arbeit anerkannt wird. Das, obwohl sie ja höchst systemrelevant ist. Man müsste sogar eher sagen „systemkritisch“, weil sie Grundbedürfnisse bedient und eben keinen Tag lang ausgesetzt bleiben kann. Was wir beobachtet hatten und immer noch beobachten zu ganz weitreichenden Teilen, ist, dass nicht anerkannt wurde, dass Kinder betreuen, bilden, sich auf ihre anderen Bedürfnisse einstellen, gerade jetzt beim Wegfallen von so viel Normalität in ihrem Leben, dass das viel Zeit kostet, die nicht über Wochen und Monate zusätzlich erledigt werden kann, ohne dass die Betroffenen Schaden davon nehmen. Die Folgen, die tatsächlich auch absehbar waren und vor denen etliche WissenschaftlerInnen auch gewarnt haben, die sind jetzt vielfältig beobachtbar. Zum anderen wird private Care-Arbeit insofern auch noch immer nicht als Arbeit verstanden, als dass nicht gesehen wird, nicht kommuniziert wird, wie abhängig wir alle davon sind. Dass eben Eltern beispielsweise diese Arbeit leisten und das, obwohl unser ganzes System darauf baut, dass neue, die Volkswirtschaft tragende Gesellschaftsmitglieder versorgt werden.

Zumal es ja auch nicht jedem liegt. Also Sie sprachen schon an – das Homeschooling. Natürlich kann man davon ausgehen, dass man das so „nebenbei“ macht, aber es liegt ja auch einfach nicht jedem, nicht jeder kann adäquat auffangen, was eine Schule leisten könnte und genauso ist es ja auch in der Pflegearbeit.

Genau. Da habe ich dieses Bild vor Augen, was man ja immer so schön sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“. Das zeigt sich da einfach so sehr, dass wir eben alle darauf angewiesen sind, dass wir das alle gemeinsam machen und nicht, dass immer wieder sehr stark auf Eltern, insbesondere auf Mütter abgeschoben wird. Da sind wir nahe an der Sache, dass es eben ein Gefälle gibt zwischen Männern und Frauen und das war eben schon vor der Krise so, dass die Tatsache, dass Care-Arbeit eben so schlecht oder unbezahlt ist, deshalb zu sozialer Ungleichheit führt, weil sie eben in der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Zum einen zwischen Haushalten mit und ohne Kinder, oder zu pflegenden Angehörigen und zum anderen, zwischen Männern und Frauen in Paarhaushalten, was sich eben aus den gewachsenen Strukturen auch erklären lässt. Wenn wir da vielleicht ein paar Kennzahlen nennen wollen; Frauen leisten sehr viel mehr unbezahlte Care-Arbeit als Männer, nämlich über 50% mehr, und wenn kleine Kinder mit im Haushalt leben, sind es sogar über 80 % mehr. Wenn wir uns nur auf die direkte Care-Arbeit beziehen, die also am Menschen stattfindet, dann ist es sogar über 100% mehr, wenn Kinder im Haushalt leben. Gerade diese Arbeit schafft ja so viel Unflexibilität und auch Mental-Load. Dieser Mental-Load ist in diesen Zahlen tatsächlich noch nicht einmal drin, weil wir den so schlecht messen können. Das hat eben viel damit zu tun, welche Strukturen wir in Deutschland, aber eben auch in vielen anderen Ländern beobachten, in denen dieser Care-Gap auch zu groß ist. Zum einen haben wir in Deutschland immer noch recht konservative soziale Normen. Dieses Abschieben der Arbeiten in das Private, das ist das sogenannte Subsidaritätsprinzip. Das kennzeichnet den konservativen Wohlfahrtstaat, dieses Kümmern wird ganz deutlich als Privatangelegenheit verstanden. Wenn Menschen auf Unterstützung angewiesen sind, ist es immer in erster Linie die Familie, die da zur Verantwortung gezogen wird. Außerdem führen die Strukturen dazu, dass wir zum Beispiel auch ein großes Lohngefälle, Pay-Gap, haben zwischen Männern und Frauen. Gerade in Verbindung mit dem Ehegattensplitting führt es dann immer wieder dazu, spätestens, wenn dann Kinder kommen, dass die Mutter mehr Erwerbstätigkeit reduziert als der Vater, mit allen individuellen Folgen für den Erwerbs- und den Rentenverlauf. Da kommt dann auch wieder die Verbindung zur beruflichen Care-Arbeit ins Spiel, denn auch diese wird zu großem Teil, zu über 80 %, von Frauen geleistet. Sie wird schlecht bezahlt und findet unter knappgesparten Bedingungen statt, die oft dazu führen, dass die Ausübenden nicht jahrzehntelang voll arbeiten können. Das alles trägt dann wieder zu diesem Pay-Gap bei. Das heißt, auch um das Machtgefälle innerhalb von Partnerschaften zu verändern, ist es wichtig, dass wir gleichwertige Arbeit endlich auch mit gleichen Löhnen bezahlen und nicht ausgerichtet daran, welcher derzeit auf dem Markt verwertbarer Output entsteht. Das ist auch deshalb wichtig, weil diese Orientierung daran, was auf dem kapitalistischen Markt Gewinne erbringt, einen zu starken Druck auf diese Care-Tätigkeiten ausübt, die eben nicht immer gewinnsteigernder ausgeübt werden können. Wir können nicht immer schneller Kinder erziehen, immer schneller Alte pflegen. Die Ökonomisierung dieser Bereiche birgt große Probleme. Zum einen, für die Ausübenden, aber auch für die Inanspruchnehmenden selbst, also die Menschen, die Pflege bedürfen und Sorgearbeit in Anspruch nehmen. Wir müssen uns bewusst machen: wir sind von diesen Arbeiten abhängig. Ein Drittel unseres Lebens sind wir auf Care-Arbeit angewiesen, weil wir zu jung, zu alt oder zu krank sind, um uns allein zu versorgen. Wir sind darauf angewiesen, dass diese neuen Gesellschaftsmitglieder gesund heranwachsen können. Wir nehmen uns mit diesem Umgang der Care-Arbeit aktuell unsere eigentliche Lebensgrundlage, ähnlich wie wir es mit unserem nicht nachhaltigen Umgang mit Umweltressourcen machen. Es entstehen direkt eine ganze Reihe von Verwerfungen für die Ausübenden. Es führt dazu, dass Care-ArbeiterInnen – bezahlte und unbezahlte – meistens Frauen, zum einen häufig ökonomisch sehr eng an einen Partner gebunden sind. Es fördert also auch den Verbleib in problematischen Partnerschaften. Es fördert, dass Kinder alleinerziehender Frauen sehr häufig von Armut bedroht sind, obwohl diese Frauen eben mit ihrer Care-Arbeit häufig zusätzlich zur Erwerbsarbeit wahnsinnig viel leisten für unser Gesellschaftssystem. Und zum anderen führt diese Missachtung der Care-Arbeit, wie gesagt, zu großen Überlastungsrisiken. Beispielsweise der Dauerstress von berufstätigen Eltern ist ein systematisches Problem, kein individuelles. Da müssen wir an die Ursachen ran. Da müssen wir vor allen Dingen verstehen, wie nicht nur in der ungleichen Verteilung zwischen Männern und Frauen in dem Gender-Care-Gap, sondern sich auch die Gesellschaft sich zu wenig an der privaten Care-Arbeit beteiligt. Das haben wir jetzt in der Pandemie deutlich gesehen, weil Eltern alleingelassen wurden: A) mit dem Risiko, welches sich auf dem Erwerbsmarkt ergibt, wenn sie diesem fernbleiben und B) mit der Verantwortung, dem Wohlbefinden und der Bildung der Kinder. Es gibt keinen Kündigungsschutz für Eltern, keinen Schutz vor Diskriminierung auf dem Erwerbsmarkt, es gibt keine verlässliche Lohnersatzleistung, in einer Höhe die es auch Vätern gut erlaubt, zuhause zu bleiben. Es gibt nicht einmal eine Planungssicherheit in einer Form, dass wir wenigstens jetzt im zweiten Lockdown wissen: Wir werden mit unserer vielen, doppelten und dreifachen Arbeit gesehen und die Gesellschaft beteiligt sich endlich angemessen.
Gerade bei Müttern ist es so, dass deren ohnehin schon riesiger Care-Berg nun durch das weitere Anwachsen, noch seltener vereinbar ist, mit den hohen Leistungen, die der Erwerbsmarkt fordert und gleichzeitig einer gesunden Lebensweise. Wir sehen das jetzt auch in schon empirischen Daten – ihr Wohlbefinden und ihre Erwerbstätigkeit haben aufgrund der Care-Last noch empfindlicher gelitten, als es vor der Pandemie der Fall war. Es ist absehbar, dass die „Mütterdiskriminierung“ zunehmen wird, weil alle gelernt haben, dass Eltern unzuverlässige ArbeitnehmerInnen sind und es vor allem auf Mütter zurückfallen wird. Viele Mütter werden sich gar nicht erst bewerben aufgrund der Last und der Unsicherheit und das wird langfristige Auswirkungen auf die ökonomische Handlungsfähigkeit der Frauen haben. Die finanzielle Abhängigkeit steigt und es werden noch weniger Frauen in Entscheidungspositionen sein. Das ist dann wieder ein Teufelskreis für ihre Situation. Dafür werden eben mehr Frauen zuhause sichtbar sein und ihren Kindern eben vorleben, dass Kindererziehung und Haushalt von Müttern erledigt wird.

Aber sehen Sie es auch als eine Chance, dass die Pandemie diese Missstände nun noch mehr aufzeigt und vielleicht auch diese Systemrelevanz ein bisschen mehr an die Oberfläche bringt, um diese Missstände anzugehen?

Das wäre schön. Das Problem ist, dass vulnerable Gruppen am meisten unter diesen Krisen leiden, weil sie geringe politische und ökonomische Macht besitzen. Das heißt, wir kommen nur deshalb in diese Probleme rein, weil wir sie vorher auch schon hatten. Deshalb wäre es ganz wichtig, sie von Anfang an zu sehen und dann entsprechend jetzt schon die ganze Zeit begleitende Maßnahmen zu fahren, damit diese Probleme nicht so schlimm werden. Gleichzeitig besteht hier eine Gefahr, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet und genau das beobachten wir derzeit. Beispielsweise wenn es um die Impfbereitschaft von Pflegepersonal geht. Ich muss sagen, ohne jetzt dieses düstere Bild zeichnen zu wollen – darum geht es ja nicht – sondern darum, dass diese Risiken anerkannt werden, die ernsthaft bestehen und auch datenbasiert bestehen. Genauso, wie VirologInnen nicht erst warten müssen, bis die halbe Bevölkerung vom Virus dahingerafft ist, muss man präventiv eingreifen. Das ist in den Sozialwissenschaften und bei strukturellen Dingen genau die gleiche Sache. Denn es besteht die Gefahr, dass wir die Care-Ressourcen so stark ausnutzen, dass die Care-Krise jetzt noch viel schneller gravierend wird. Wenn sich nach dieser Krise, so deutet es sich gerade an, noch mehr Pflegekräfte aus der Pflege verabschieden, oder wenn sich noch mehr Menschen gegen erste oder weitere Kinder entscheiden, dann vergrößern sich alleine schon unsere Fachkräfteprobleme viel schneller.

Wie sähe denn ein Weg in ein besseres Verhältnis aus? Also, können Sie uns vielleicht abschließend noch etwas zu dem „Equal Care Manifest“3 erzählen?

Was wir müssen, ist eigentlich wieder die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse als Maßstab bei allen Entscheidungen zu nehmen. Dazu zählt ein nachhaltiger Umgang mit Umwelt-Ressourcen. Ich glaube das ist mittlerweile Common Sense, auch wenn man es nicht unbedingt in der Praxis überall angekommen ist. Aber eben auch, dass Care-Tätigkeiten dauerhaft qualitativ hochwertig ausgeübt werden können, ohne, dass Benachteiligungen für die Ausübenden entstehen. Wir müssen eine Umlage von den Finanz- und Kapitalmärkten schaffen, dorthin, wo diese Grundbedürfnisse befriedigt werden. Zum Beispiel: Wir wissen, dass eine IT-Fachkraft 17 Euro mehr in der Stunde bekommt, als eine Fachkraft aus dem Sorgebereich, deren Arbeit aber vergleichbare Belastungen und Anforderungen mitbringt. Da müssen Umbewertungen stattfinden. Das ist eine Forderung des Equal Care Mainfests. Genauso müssen wir bei der privaten Sorgearbeit umdenken. Zum einen insofern, dass gerade Väter noch mehr Möglichkeiten bekommen, das zu tun, was sie auch möchten und ihrer Care-Verantwortung nachkommen, indem beispielsweise die Partnermonate der Elternzeit erweitert werden, in dem Vaterschutzzeiten nach der Geburt von Kindern eingeführt werden und so weiter. Vor allem aber müssen wir endlich die Gesellschaft viel stärker an der privaten Sorgearbeit beteiligen, als es bisher der Fall ist. Wir müssen diesen Gedanken aufgeben, dass es reicht, die Sorgearbeit besser zwischen Vätern und Müttern zu verteilen. Eine Idee ist hier eine allgemeine Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 30 Stunden, verbunden mit zusätzlichen Leistungen für alle gemeinnützigen Aufgaben, zum Beispiel Kindererziehung, Pflege oder aber auch ehrenamtliche Tätigkeiten. Es gibt so vieles, was wir gesellschaftlich bringen, tun, wollen und sollen, aber den Menschen fehlen eben die zeitlichen und ökonomischen Mittel dazu. Weitere Forderungen des Equal Care Manifests sind zum Beispiel auch die Förderung von angemessen entlohnten sozialversicherten haushaltsnahen Dienstleistungen, weil wir da gute Erfahrungen aus dem Ausland haben. Dort hat sich dieses Instrument tatsächlich auch in Krisenzeiten als ein gutes arbeitsmarktpolitisches Instrument erwiesen, um Menschen wieder in Beschäftigungen zu kriegen. Das ist wieder auch nötig, um die häufig prekären Beschäftigungssituationen von oft illegalen in Haushalten Arbeitenden, meist Migrantinnen, zu verbessernEng daran gekoppelt ist auch eine Forderung des Equal Care Manifests, dass die Care-Krise grundsätzlich nicht damit gelöst werden darf, dass durch Nutzung von SorgearbeiterInnen aus dem Ausland, dort dann neue Lücken im Care-System entstehen, des sogenannten Care Chains.

Weil die sich dann wiederum nicht um ihre Familie zuhause kümmern können, so zu sagen?

Genau. Und als letztes ist es so, dass es im Equal Care Manifest ganz entscheidend darum geht, die Sichtbarkeit des Wertes aus Care-Arbeit zu erhöhen. Damit sie endlich nachhaltig in allen Entscheidungen berücksichtigt wird, durch den Einbezug dieser Arbeit in volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und unbedingt auch in einer expliziten Thematisierung, zum Beispiel im Schulunterricht. Anstatt Mädchen weiterhin unkommentiert Puppen und Spielküchen zu schenken und Jungen technisches Spielzeug, müssen wir gerade mit Kindern von Beginn an darüber sprechen, was es aktuell in unserer Gesellschaft bedeutet, Care-Arbeit zu leisten und was es für uns alle bedeutet, wenn das aber für den Einzelnen immer unattraktiver wird, sie zu leisten. Das sind so die Hauptforderungen des Equal Care Manifests, aber das kann man gerne auch weiter noch nachlesen und auch weiter unterstützen.

Damit bedanke ich mich für das Gespräch. Es lässt viel zum Nachdenken und zum „Noch-mehr-um-sich-Herumschauen“. Vielen Dank.

Beiträge von Frau Dr. Bastin:

weitere Informationen

1 https://www.socium.uni-bremen.de/ueber-das-socium/mitglieder/sonja-bastin/ [21.02.2021]

2 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2018): Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/zweiter-gleichstellungsbericht-der-bundesregierung-119796 [26.02.2021]

3 Equal Care Manifest, 19.5.2020, https://equalcareday.de/manifest [26.02.2021]

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak