Folge 8: Das Geburtengeschehen in der Corona-Krise, Interview mit PD Dr. Martin Bujard

Demografie und Gesellschaft im Fokus: Das Geburtengeschehen in der Corona-Krise, Interview mit PD Dr. Martin Bujard

Willkommen zu einer neuen Folge des Podcasts der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Dieses Mal befinden wir uns im Gespräch mit Dr. Martin Bujard1. Er spricht über erste Entwicklungstendenzen in Bezug auf das Geburtengeschehen in der Corona-Krise in Deutschland. Martin Bujard ist Forschungsdirektor für den Bereich Familie und Fertilität am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und zugleich stellvertretender Direktor des Instituts. Seine aktuellen Forschungsprojekte umfassen Familienpolitik und Vereinbarkeit, den internationalen und interkulturellen Vergleich der Fertilität sowie Geburtenaufschub, Infertilität und Reproduktionsmedizin. Darüber hinaus ist Herr Bujard Ansprechpartner für das neue familiensoziologische Panel FReDA, welches seit 2020 erhoben wird.

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Hallo Herr Bujard,

wir freuen uns, dass Sie sich die Zeit genommen haben für unser Gespräch heute und dass Sie bei unserem Podcast dabei sind. Die Corona-Pandemie hat das öffentliche und private Leben stark geprägt in den letzten 1,5 Jahren. Hat besonders die Leute mehr als vielleicht vorher an das Zuhause gebunden, durch Lockdown, Homeoffice und so weiter. Unsere große Frage ist heute: Haben die Menschen die Zeit für die Familienplanung genutzt?

Um einzusteigen in dieses Thema: Wie sahen denn die Geburtenstatistiken vor der Corona-Pandemie aus? Können Sie uns da einen Überblick geben?

Sehr gerne. Wir haben in Deutschland seit 1975 Geburtenraten unter 1,5 Kindern pro Frau und teilweise sogar 1,2 Kinder pro Frau Anfang der 1990er Jahre. Die Geburtenrate ist seit etwa 2005 angestiegen auf 1,5, was ich vor allem auf den Ausbau der familienpolitischen Angebote, Kinderbetreuung, aber auch Elterngeld zurückführe. Aber auch auf den größeren Anteil von Frauen mit Migrationshintergrund, die aus kulturellen Gründen eine etwas höhere Geburtenrate haben. Wir haben zuletzt Geburtenraten von etwa 1,5. Heute ist gerade die Geburtenraten von 2020 herausgekommen2. Sie ist von 1,54 auf 1,53 gesunken. Das ist also eine Seitwärtsbewegung und da spielt Corona auch noch keine Rolle. Wichtig ist vielleicht noch zu sagen: Deutschland ist inzwischen im europäischen Mittelfeld. Gerade die skandinavischen Länder, die vor 20 Jahren noch deutlich höhere Geburtenraten von nahe 2 hatten, haben teilweise Geburtenraten auf dem Niveau von Deutschland, teilweise auch darunter. Da hat sich viel verändert. Und vor 10, 15 Jahren war Deutschland europaweit doch eher am Tabellenende. Also da merkt man, dass sich einiges entwickelt hat in den letzten Jahren.

Vielleicht für unser ZuhörerInnen: „Geburtenrate von 1,5“ bedeutet…?

Das bedeutet, dass auf 100 Frauen etwa 153 Kinder in einem Jahr geboren werden und zwar auf 100 Frauen im gebärfähigen Alter von 15 bis 49 Jahren. So wird das gerechnet bei der Geburtenrate. Das ist ein etwas künstlicher Indikator – die zusammengefasste Geburtenziffer – aber sie ist dadurch immer sehr aktuell: Man kann also für jedes Jahr sagen „Im Jahr 1918, im Jahr 2020 gab es die Geburtenraten so und so in dem und dem Land“. Es gibt noch eine andere Geburtenrate, das ist die Geburtenrate für Frauenkohorten und die sagt aus, wie viele Kinder Frauen bekommen haben. Beispielsweise des Jahrgangs 1970, die sind heute 51 und die Geburtenbiographie ist abgeschlossen. Das ist ein sehr genauer Wert und der bezieht sich auf einzelne Frauenjahrgänge und ist dadurch sehr konkret. Allerdings ist diese Geburtenrate nicht ganz so aktuell, weil man ja warten muss, bis die Geburtenbiographie abgeschlossen ist und deswegen sind beide Indikatoren so wichtig.

Welche Daten liegen Ihnen denn zur aktuellen Pandemiezeit vor? Also wie sie sagten, im Jahr 2020 werden sie ja dann schon die vollständigen Zahlen haben können, oder?

Genau. Für das Jahr 2020 sind die Geburtenzahlen fertig. Allerdings ist das Jahr 2020 von Corona kaum beeinflusst, denn Corona ging ja in Deutschland, mit den Maßnahmen zur Einschränkungen, im März 2020 los und bis ein Kind geboren wird, dauert es etwa ein dreiviertel Jahr. Insofern hätte man wenn dann im Dezember leichte Effekte. Die gab es aber nicht. Es gibt monatliche Daten, die werden etwa drei Monate verzögert herausgegeben. Die werden von den Standesämtern sozusagen eingesammelt, an die Bundeämter weitergeleitet und dann an das Statistische Bundesamt. Durch diese Daten hat man dann die monatlichen Daten. Und von den monatlichen [Daten] wissen wir, dass im Februar und im März die Zahl der Geburten angestiegen ist. Ja, doch so erheblich, dass man von einem kleinen „Corona-Baby-Boom“ in der Presse gesprochen hat. So ist die Datenlage und wie es die nächsten Monate weitergeht, kann keiner ernsthaft voraussagen.

Also ist für Sie das Jahr 2021 jetzt eigentlich noch am spannendsten, um die Folgen des Lockdowns richtig nachvollziehen zu können?

So ist es. Das Jahr 2021 wird sehr spannend sein, weil man da wirklich die Effekte der Pandemie sehen kann, auf die Geburtenrate. Ich gehe davon aus, dass es das Geburtenverhalten sehr stark beeinflussen wird. Es gibt verschiedene Effekte, die teilweise gegenläufig sind. Es gibt also Effekte, die in Richtung eines Geburtenrückganges wirken. Das sind die Existenzängste beispielsweise. Wir wissen das von wirtschaftlichen Krisen, das hat in der Regel negative Effekte auf die Geburtenentwicklung. Also Arbeitslosigkeit und gesundheitliche Ängste können auch dafür sorgen, dass Kinderwünsche aufgeschoben werden, also die Angst, schwanger zu sein und dann vielleicht Corona zu kriegen und nicht gut behandelt werden zu können, in der Schwangerschaft. Das kann aber auch einen positiven Effekt haben und das ist der Cocooning- Effekt. Der sagt aus, dass Familien in der Pandemie, gerade am Ende des Lockdown-Phase unglaublich viel Zeit miteinander verbracht. Gerade Paare, die noch keine Kinder haben, haben nicht mehr die Möglichkeiten gehabt an Partys, an Reisen teilzunehmen und Freunde zu treffen. Sondern waren wirklich zu zweit und haben sehr viel Zeit gemeinsam verbracht und Zeit gehabt, sich über die Zukunft und vielleicht auch über Kinderwunsch zu unterhalten. Die Menschen waren ja auch in den Parks, sie waren überall draußen und haben da auch Familien gesehen. Der Stellenwert von Familie ist natürlich in so einer Krise auch deutlich gewachsen und möglicherweise hat sich da ein Cocooning-Effekt bei einigen Paaren eingestellt, die sich dann entschlossen haben, Kinder zu bekommen und wir sehen ja, dass es im Februar und im März angestiegen ist. Das sind ja Paare, die im Mai/Juni/Juli sich entschieden haben, ein Kind zu bekommen und das gezeugt haben. Insofern scheint sich in diesen Monaten am Ende des ersten Lockdowns dieser Cocooning-Effekt gezeigt zu haben.

Zeichnen sich denn schon bereits möglicherweise regionale Trends ab oder wie sieht es international aus, das Geburtengeschehen in der Pandemie? Ist da schon was absehbar?

Ja international ist es völlig anders als in Deutschland, es gibt einige Länder, ob das China ist, oder USA, oder in Südeuropa, wo es ein starker Geburtenrückgang gab und zwar unmittelbar neun Monate, nachdem die Welle so stark eingeschlagen ist. Da ging die Geburtenzahlen teilweise um 15 oder 20 Prozent zurück für dann 1, 2 Monate. Das haben wir in Deutschland nicht gehabt und das hat auch die internationale Presse mit Erstaunen festgestellt, dass Deutschland eines der ganz großen Industrieländer ist, wo das überhaupt keinen negativen Impact hatte auf die Geburtenentwicklung. In einigen dieser Länder ist aber auch ein paar Monate später, wie jetzt auch in Deutschland, ein gewisser Anstieg zu sehen. Das muss noch weiter erforscht werden. Möglicherweise wurden einige Geburten auch einfach nur aufgeschoben in diesen Ländern. Aber Deutschland ragt da in gewisser Weise heraus, denn wir hatten in Deutschland bisher keinen coronaspezifischen Rückgang zu sehen, sondern wir haben im Moment diesen Cocooning-Effekt. Aber es kann durchaus sein, denn die erste Welle war in Deutschland nicht ganz so stark, dass die zweite oder dritte Welle auch nochmal einen negativen Effekt auf die Geburten haben wird. Es bleibt spannend.

Ja auf jeden Fall, gerade, wenn man im internationalen Vergleich solche Unterschiede feststellt. Gerade wenn man sich mal mit dem Thema befasst hat, dann ist einem noch dieser Babyknick nach der Wende, gerade in Ostdeutschland im Hinterkopf, wo man sagt, die Deutschen sind vielleicht etwas vorsichtiger und schieben die Geburten eher auf. Es ist ja interessant, dass sich ein Trend zeigt, der in die andere Richtung geht. Wo sie den Cocooning-Effekt angesprochen haben, kommt einem ja auch in den Gedanken: Welchen Einfluss haben Kinderwunschbehandlungen denn in dieser Zeit? Weil, sich vorzunehmen, ein Kind zu bekommen, heißt ja noch nicht, dass das funktioniert.

Kinderwunschbehandlungen nehmen immer stärker zu in Deutschland. Etwa drei Prozent der Geburten, die wir haben, basieren auf künstlicher Befruchtung und der Anteil nimmt zu. Was auch damit zu tu hat, die Frauen immer später ihr erstes Kind bekommen und mit zunehmendem Alter steigt auch die Infertilität an. Insofern fangen dann Kinderwunschbehandlungen das ein Stück weit auf und ermöglichen dann den Paaren den Kinderwunsch umzusetzen. In der Coronakrise sind die Kinderwunschbehandlungen um etwa 10 Prozent angestiegen, im Jahr 2020, und das ist insofern bemerkenswert, als dass diese Kliniken ja auch eine Zeit lang geschlossen waren im Lockdown. Insofern zeigt sich vielleicht hier auch der Cocooning-Effekt, denn man muss wissen, dass wenn Paare sich für eine Kinderwunschbehandlung entscheiden, dann sind sehr viele Gespräche im Vorfeld [nötig], weil das ein großer Schritt ist. Ist ja auch oft eine psychische Belastung und da brauchen Paare auch Zeit darüber zu sprechen und vielleicht haben sie gerade im Lockdown Zeit gehabt, um darüber zu reden und zu sagen: „Jetzt gehen wir das Ganze mal an und machen diese Behandlung.“. Das ist gestiegen in einem Maße, das bemerkenswert ist und was auch mit dem Lockdown zu tun hatte.

Ich möchte nochmal auf die regionalen Unterschiede zurückkommen. Zeichnen sich denn auch innerhalb Deutschland regionale Trends ab? Können Sie dazu was sagen?

Was uns die Coronawirkung angeht, gibt es in Deutschland noch keine Daten, dass man das regional wirklich so unterscheiden kann. Ich vermute auch nicht, dass es regional so große Unterschiede mit Corona gibt. Was wir aber wissen ist, dass es große Unterschiede bei der regionalen Geburtenentwicklung generell gibt, unabhängig von Corona. Auf Basis des Zensus haben wir die Kohortenfertilität, also die endgültigen Kinderzahlen von Frauen, die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre geboren sind, auf Kreisebene angeguckt und haben das mit einem Modell geschätzt, sodass wir für alle 401 Kreise in Deutschland letztlich die kohortenspezifische Geburtenziffer haben3. Die Spannbreite ist sehr groß. Sie reicht von Passau mit 1,05 Kindern pro Frau bis zu Kloppenburg mit 2 Kindern pro Frau. Da gibt es also erhebliche Unterschiede, es gibt gewisse Regionen, wo die Geburtenrate deutlich höher ist, als in anderen Regionen. Das hat zum einen mit Stadt-Land zu tun, auf dem Land ist sie höher, aber es gibt gewisse Regionen, beispielsweise in Baden-Württemberg oder auch in West-Niedersachsen, wo die Geburten einfach deutlich höher sind als in anderen Teilen Deutschlands. Das ist schon sehr interessant und man sieht gewisse kulturelle Prägungen dort, das hat aber auch mit der Sozialstruktur zu tun.

Also kann man sagen, dass vor der Pandemie die Zahlen doch relativ stabil waren bei 1,53. Jetzt können wir aber noch nicht richtig zusammenfassend sagen, dass es unbedingt einen Babyboom gibt. Es gibt einen Anstieg der Geburten aber wir können noch nicht sagen, wo die Gründe liegen und ob es vielleicht doch noch ein Aufschieben gibt. Also die Zahlen können das zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig sagen. Habe ich das richtig zusammengefasst?

Genau. Ich würde auch nicht von einem „Babyboom“ sprechen, das ist schon ein bisschen viel. Das macht die Presse natürlich gern daraus, weil es ansteigt, aber es ist doch eine so geringe Entwicklung für zwei Monate. Es kann durchaus sein, dass wir für das Jahr 2021 einen Geburtenrückgang insgesamt haben. Es kann aber auch sein, dass wir einen Anstieg haben. Das ist im Moment noch gar nicht absehbar. Ich hatte ja gesagt, es gibt diese verschiedenen Mechanismen und wir wissen nicht, welche Mechanismen für die nächsten Monate wie relevant sind. Insofern wird das Geburtenverhalten in den nächsten Monaten sehr volatil sein und ob es insgesamt für das ganze Jahr noch oben geht, nach unten oder seitwärts, lässt sich noch nicht sagen.

Wann sind denn die aussagekräftigen Zahlen zu erwarten? Also wann können wir vielleicht die reißerische Überschrift „Babyboom“ aus der Presse streichen oder relativieren? Wann können Sie das guten Gewissens machen?

Das ist eine graduelle Sache. Das ist die Frage: Wie stark sind die Ausschläge? Ich würde mal sagen, wenn im Jahr 2021 ein starker Anstieg ist für das ganze Jahr –  die Daten werden relativ schnell Anfang 2022 dann herauskommen als erste Estimation – und dann kann man vielleicht schon sagen: Okay, es gab in dem Jahr einen gewissen Boom. Aber wir kriegen ja auch Monatsdaten und das wird sicherlich sehr interessant sein, auch Monat für Monat zu gucken, was denn passiert, denn ich erwarte eine sehr volatile Entwicklung.

Dann muss ich meine nächste und auch abschließende Frage ein bisschen offen stellen: Würde es also einen Babyboom geben, welche demographischen Auswirkungen hätte das dann in Deutschland? Wir als Podcast der Gesellschaft für Demographie interessieren uns natürlich besonders dafür.

Wenn es einen Babyboom gibt, sei es durch Corona, sei es vielleicht auch durch Verbesserung der Familienpolitik, oder, dass sich generell auch die Normen in der Gesellschaft ändern, dass wir in Deutschland vielleicht etwas von der Zwei-Kind-Norm wegkommen und vielleicht die drei Kinder etwas populärer werden – Was würde sich dann ändern? Also zuerst würde natürlich der Bedarf an Kitaplätzen, an Erziehung und später an Lehrerinnen und Lehrern steigen. Kitas werden auch jetzt schon ausgebaut, weil der Anteil an Leuten, die sich eine Kita wünschen, immer größer wird und für die Bevölkerungsgröße und auch für die Altersstruktur würde das erstmal keinen großen Einfluss haben. Oder auch für den Arbeitsmarkt, denn diese Geburten kommen ja erst 20 Jahre später in den Arbeitsmarkt rein. Insofern wäre es entscheidend, wenn es tatsächlich einen Babyboom gibt, dass es kein Strohfeuer von eins/zwei Jahren ist, sondern dass die Geburtenrate längere Zeit anhält und dann hat man auch später Richtung Alterung und Bevölkerungsgröße auch Effekte.

Und gleiches gilt doch dann auch für den sogenannten Babyknick oder auch –Einbruch, wie auch immer man das nennen möchte?

Exakt. Genau das gleiche gilt für den Einbruch, wenn es einen Rückgang gibt. Das Spannende ist, man kann ziemlich gut durch die demographische Trägheit den Altersquotienten, die Renten- und Arbeitnehmerproportion relativ gut einschätzen. Aber wie hoch die Geburtenrate im nächsten Jahr ist, lässt sich schwer einschätzen. Was wir aber wissen ist, wie viele Mütter im gebärfähigen Alter sind. Denn die sind schon geboren und das lässt sich relativ gut einschätzen. Aber die Geburtenrate kann man nicht ernsthaft prognostizieren und das macht das Ganze auch so schön spannend.

Dann vielen Dank Herr Bujard für diesen spannenden Einblick – man sieht ja immer Kinder draußen rumlaufen, werdende Eltern –  aber das mal in Zahlen auszudrücken und zu hören, wie dieser Bereich der Gesellschaft erforscht wird, war wirklich spannend.

Vielen Dank auch.

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Verweise:

1PD Dr. Martin Bujard: https://www.bib.bund.de/DE/Institut/Mitarbeiter/Bujard/Bujard.html, letzter Zugriff: 04.08.2021.

2DESTATIS (2021): Pressemitteilung Nr. 343 vom 16. Juli 2021, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/07/PD21_343_12.html;jsessionid=8B7128EA7648DE8B6FE1281132D5B592.live712, letzter Zugriff: 04.08.2021.

3Bujard, M., & Scheller, M. (2016). Einfluss regionaler Faktoren auf die Kohortenfertilität: neue Schätzwerte auf Kreisebene in Deutschland. Comparative Population Studies-Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 41, 101-135.

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Folge 6: Die väterliche Beteiligung in der Corona-Krise, Interview mit Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld

Demografie und Gesellschaft im Fokus: Die väterliche Beteiligung in der Corona-Krise, Interview mit Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld

Willkommen bei einer neuen Folge des Podcasts der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Heute befinden wir uns im Gespräch mit Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld1. Sie spricht in diesem Beitrag über die Auswirkung der Coronakrise auf die familiäre Beteiligung der Väter in Deutschland. Frau Kreyenfeld ist Professorin für Soziologie an der Hertie School in Berlin und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Schwerpunkte ihrer Forschung sind Familiensoziologie und -demographie, sowie die Lebenslaufforschung.
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Hallo, ich begrüße Sie recht herzlich zu unserem Interview heute, und ich möchte auch gleich mal mit der ersten Frage starten: Es geht um die Organisation der Familie. Wie hat sich denn vor der Pandemie das Familienleben gestaltet?

Ich glaube, ganz wichtig ist, auch in der aktuellen Situation, sich nochmal vor Augen zu führen, dass natürlich auch schon vor der Pandemie alles sehr „traditionell“ verlaufen ist. Also 70% der Sorgearbeit von Leuten, die zusammen mit ihren Kindern in einem Haushalt gelebt haben, hat die Mutter die Hauptlast der Arbeit geleistet. Aber man muss sehen, dass sich einiges dennoch in den letzten Jahren verändert hat. Das heißt, wenn man 10 Jahre nochmal zurückblickt, war nochmal ungleicher, was die Aufteilung der Sorgearbeit betrifft. Das sind zwei wichtige familienpolitische Entwicklungen.  Einmal das Elterngeld, das 2007 eingeführt worden ist und der Ausbau der Kinderbetreuung, der seit 2005 vorangetrieben worden ist, die eigentlich dazu geführt haben, dass die Aufteilung der Sorgearbeit gleicher geworden ist. Man kann auf der einen Seite sagen, Frauen haben auch schon vor der Pandemie die Hauptlast getragen, nämlich 70 %, man kann aber auch sagen, immerhin sind es mittlerweile 30% der Betreuungsleistung, die von Vätern erbracht werden.

Also betonen Sie, dass es eben nicht nur die Frauen sind, die die Last tragen, was wir auch in unserem letzten Podcast gehört haben, sondern, dass sich eben auch durch verschiedenste Reformen, eigentlich ja auch in recht kurzer Zeit, der Anteil der Männer am Haushalt geändert hat. Ich meine, das sieht man ja selbst schon innerhalb einer Generation – Elterngeneration, Großelterngeneration –  da sieht man ja auch schon eine deutliche Veränderung des Engagements der Väter.

Genau. Das würde ich auf jeden Fall unterstreichen. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, man hat vielleicht ein bisschen zu viel nur über die Mütter geredet, während der Corona-Krise. Klar, die Hauptlast liegt und lag schon vorher bei den Müttern, aber man hat kaum über Väter geredet und was Väter in der Corona-Krise gemacht haben. Ich denke, das ist ein Manko, weil durchaus auch Väter ihren Beitrag geleistet haben während der Corona-Krise, die immerhin jetzt schon mehr als ein Jahr andauert. Da wurde ja diese Retraditionalisierungs-Hypothese ziemlich schnell in den Raum gestellt, noch bevor es überhaupt irgendwelche empirischen Daten gab, muss man dazu sagen. Diese Hypothese besagt, dass wir durch die Corona-Krise nochmal einen Rückschritt erfahren haben und dass die Rollenaufteilung in der Partnerschaft nochmal traditioneller geworden ist, als es vor der Krise der Fall gewesen ist.  Also, dass den Frauen alles wieder auf die Füße gefallen ist. Das ist die Hypothese, die durch die Medien gegangen ist und auch immer noch geht. Aber mittlerweile haben wir relativ belastbare Zahlen zur Aufteilung der Sorgearbeit während Corona und keine der großangelegten Befragungsdatensätze hat diese Retraditionalisierungs-Hypothese bestätigt. Alles was wir auf Basis der belastbaren Zahlen wissen, ist, dass sich, wenn überhaupt, es sich eher zu einer etwas gleicheren Verteilung verschoben hat, sich aber im Prinzip im Schnitt eigentlich nichts geändert hat. Und das finde ich so erstaunlich. Wir haben ganz klar belastbare Zahlen aus vielen verschiedenen Studien mittlerweile, aber in den Medien hält sich diese Retraditionalisierungs-These.

Wie kann man sich das denn eigentlich erklären? Natürlich ist es klar, dass es an verschiedenen Faktoren liegt, wie das jetzt im Haushalt alles neu aufgeteilt wird, schon allein durch Homeoffice, durch Kurzarbeit. Da könnte man ja auch an die Frauen denken, die teilweise gar nicht in Kurzarbeit oder zu Hause bleiben können, weil sie beispielsweise in systemrelevanten Berufen sind. Vielleicht denkt man da sogar eher an Frauen als an Männern, dass die vielleicht weiterhin zu Arbeit gegangen sind während der Bankangestellt zu Hause nun auf seine Kinder anpasst. Was meinen Sie, wie kommt dieses Bild in die Medien?

Genau. Ich glaube, das ist der Punkt, dass wir ein bestimmtes Familienbild im Kopf haben und dann immer als erstes an eine bestimmte Frau oder Mutter denken, die alles aufgibt, nur um für die Kinder während Corona da zu sein und den Vater, der die Hauptlast trägt, in dem Sinne, dass er Einkommen heranbringen muss und es deswegen nur in dieser Ungleichheit weitergeht. Aber letztendlich kommt es auf die Partnerkonstellation an. Vielleicht ist die Frau in einem systemrelevanten Beruf und der Vater auf Kurzarbeit und dann läuft es umgekehrt. Und das ist ganz wichtig: das ist eine neue Generation, die hier Kinder bekommen hat. Diejenigen, die jetzt Kinder unter 12 haben, die haben Kinder nach den großen familienpolitischen Reformen bekommen. Das sind teilweise Männer, die Elternzeit genommen haben mit ihren Kindern. Das sind diese bekannten „Daddy-Month“ – die Vätermonate, die so in den Medien damals diskutiert worden sind. Das ist schon eine neue Generation von der wir hier reden. Der zweite Punkt, der hier wichtig ist, dass es je auf die Partnerschaftskonstellation ankommt. Es ist nicht einfach so, dass der Mann in die Bresche springen muss, weil er das Einkommen nach Hause bringt, sondern es kommt darauf an, wenn der Mann jetzt von Kurzarbeit betroffen ist, dann hat er erst einmal Zeit. Das ist eine bezahlte Freistellung. Wenn die Frau in einem systemrelevanten Beruf arbeitet, dann ist es doch sehr gut möglich, dass eben die Frau dann weniger Zeit mit den Kindern verbringt, aber der Mann einspringt. Andererseits wissen wir auch, gerade in Westdeutschland, dass viele Frauen, gerade wenn sie kleine Kinder haben, nur marginal erwerbstätig sind. Die haben möglicherweise ihren Job verloren während der Corona-Krise. Da kann es sein, dass die Frauen ihre Betreuungsleistung währen der Corona-Krise nochmal hochgefahren haben. Da ist eigentlich auch das, was die bisherigen Studien zeigen: im Schnitt hat sich nichts verändert, aber es gibt eine sehr große Heterogenität; bei einigen Paaren ist es ungleicher geworden, da hat die Corona-Krise nochmal zu einer Verschiebung beigetragen und die Männer machen weniger als vorher. In anderen Partnerkonstellationen hat es dazu geführt, dass Väter plötzlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, als vorher. Also ich denke gerade hier ist es wichtig, sich ganz genau anzugucken, über wen wir hier reden.

Da sind wir ja auch schon bei ihrer aktuellen Publikation über die wir eigentlich heute im Hauptteil sprechen wollen. Die haben Sie zusammen mit Professorin Sabine Zinn2 verfasst. Was haben Sie genau untersucht?

Genau, mit Sabine Zinn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung haben wir die Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP)3 verwendet, das ist eine Längsschnitterhebung in Deutschland, die schon seit vielen Jahren stattfindet. Auch 2019 kurz vor der Corona-Krise fand sie statt und dann sind die Personen, die für diese Studie zuständig sind, relativ schnell ins Feld gegangen. Während des ersten Lockdowns haben sie dieselben Personen, die sie 2019 befragt haben, nochmal befragt, wie viel Zeit sie ganz konkret mit ihren Kindern verbringen. Das war die Variable, auf die wir uns gestützt haben. Dadurch, dass wir eine Messung vor der Corona-Krise hatten und während des Lockdowns, konnten wir dann auf der individuellen Ebene untersuchen, wie der Lockdown die Zeitverwendung von Vätern und Müttern von kleinen Kindern unter 12 Jahren beeinflusst hat. Da haben wir gesehen, dass Corona, gerade in der Zeit des ersten Lockdowns, also letztes Jahr – März, April, Anfang Mai – waren natürlich diese Eltern extrem belastet durch die zusätzliche Zeit, die sie für ihre Kinder aufwenden mussten. Aber was wir aber sehen können ist, dass der absolute Anstieg an Zeitverwendung für Kinderbetreuung für Mütter und Väter etwa gleich ist. Für Väter ist er relativ größer, was logisch ist: sie fangen ja bei einem niedrigeren Niveau an. Deswegen ist die Steigerungsrate für Väter nochmal höher als für Mütter. Aber absolut, haben beide mehr Zeit mit den Kindern verbracht. Wir haben uns auch angeguckt, welche Väter sind es denn die jetzt hier ihre Zeit ausgedehnt haben? Wir hatten damals auch Analysen zum Elterngeld gemacht, als das eingeführt worden ist. Da hat man gesehen, dass es vor allem die hochqualifizierten Väter sind, die den neuen Freiraum nutzen. Da haben wir überlegt, dass es jetzt vielleicht wieder die Hochqualifizierten sind. Sie sind ja die, die auch am häufigsten angeben, besonders aufgeschlossen zu sein, was das Engagement mit ihren Kindern betrifft. Aber das haben wir eben nicht gesehen. Wir haben gesehen, es waren eben nicht die hochqualifizierten Väter, sondern es waren eher die mit mittlerem Bildungsabschuss, die hier nochmal zugelegt haben. Die, die in der Krise die Höherqualifzierten, nicht überholt haben, aber dass jetzt durch die Krise andere Gruppen sich plötzlich stärker um ihre Kinder gekümmert haben, als es vorher der Fall war. Da haben wir überlegt, woran liegt es, dass nicht die Hochqualifizierten die Vorreiter sind und, dass das möglicherweise an der Art und Weise liegt, wie diese Corona-Krise auch den Arbeitsmarkt beeinflusst hat. Dass in Deutschland, im Unterschied zu vielen anderen Ländern, die Kurzarbeit hier eine ganz große Rolle gespielt hat, gerade in dieser ersten Phase. Fast 20% der Erwerbstätigen sind in Kurzarbeit gewesen in dieser Zeit. Und das Kurzarbeit aber vor allen Dingen die mittlere aber auch untere Einkommensklasse der Männer betroffen hat und Kurzarbeit für Männer auch in dieser Zeit häufiger war, als für Frauen. Die Kurarbeiterquote liegt in dieser Zeit für Männern deutlich höher als für Frauen. Während für Frauen andere Dinge relevanter sind. Wie ich beispielsweise schon gesagt habe, dadurch, dass sie marginal erwerbstätigt waren, haben sie möglicherweise häufiger den Job verloren und haben gar keinen Anspruch auf Kurzarbeit gehabt. Unter den Kurzarbeitern waren eben mehr Männern und das lieferte möglicherweise Freiraum dafür, die Zeit auch mit den Kindern zu verbringen. Wir hatten leider in den Daten des SOEP keine guten Informationen darüber, ob die Männer in Kurzarbeit gearbeitet haben oder nicht. Deswegen haben wir ein neues Forschungsprojektzusammen mit einer Kollegin vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg4 angefangen. In diesen Daten haben wir auch wieder Verlaufsinformationen über einen längeren Zeitraum, diesmal von Juni bis August 2020, also nicht der Lockdown, aber die Zeit nach dem Lockdown und kurz vor dem nächsten. Da haben wir jetzt auch Informationen zur Kurzarbeit und konnten auch mal anschauen, ob die Kurzarbeit wirklich einen Einfluss auf die Arbeit im Haushalt von Paarhaushalten mit Kindern hatte. In diesen Daten zeigt es sich dann auch, dass es an der Kurzarbeit liegt, dass sie den Spielraum für Männer, in der Coronazeit mit ihren Kindern Zeit zu verbringen, erhöht hat. Und, dass die Männer diese Zeit dann auch nutzen. Also, sie verbringen dann tatsächlich auch die Zeit mit ihren Kindern.

Also für die Väter vielleicht sogar ein Anschub, sich noch mehr mit der Vaterrolle zu identifizieren? Einfach, weil sie nun nicht mehr so viel arbeiten mussten, sondern einfach auch vor Ort waren und die Kinder aufpassen mussten. Die Kitas waren ja teilweise auch zu waren, oder auch die Schulen, wir reden ja noch nicht mal nur von kleinen Kindern hier.

Genau. Kitas, Schulen aber auch natürlich die Großeltern sind ja auch zum Teil als Betreuende weggefallen, weil man ja keinen Kontakt unbedingt zu ihnen haben wollte und sie gegebenenfalls nicht anstecken wollte. Es war ja eine ganze Batterie, die da weggefallen ist. Da kann man natürlich argumentieren, dass sie [die Väter] ja mussten, denn es gab ja keine andere Möglichkeit. Aber man muss sehen, dass wir Studien aus vorhergehenden Jahren haben, wo untersucht worden ist, was ist, wenn Männer arbeitslos werden, denn dann haben sie ja auch mehr Zeit. Kümmern sie sich dann mehr um ihre Kinder? Nein, das ist gar nicht unbedingt der Fall. Es müssen schon bestimmte Konstellationen sein, dass Männer dann auch diese frei gewordene Zeit nutzen, um sich mit ihren Kindern auseinander zu setzen. Es gibt auch soziologische Theorien, die sagen, wenn Männern arbeitslos werden, wenn sie in Kurzarbeit sind, kratzt es an ihren Selbstwertgefühlen, an ihrer männlichen Identität. Dann machen sie erst recht nichts, überspitzt gesagt. Aber das findet sich hier nicht. Es findet sich, dass diese möglicherweise Geschlechterrollenvorstellungen mit Sicherheit noch prägend sind, aber das hindert Männer nicht daran, die Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, wenn sie die Möglichkeit haben. Kurzarbeit ist ja eine bezahlte Freistellung und die Zeit wird scheinbar dann auch genutzt, um sie mit den Kindern zu verbringen. Diese Betreuungslast ist ja enorm angestiegen in dieser Zeit, und dass versucht wird, zwischen den Paaren, sich gegenseitig zu unterstützen.

Aber man muss da natürlich trotzdem sagen, wenn man sich diese Daten anguckt: Man hat immer die Informationen von den Vätern und die Informationen von den Müttern. Da treffen zwei Welten aufeinander. Wenn man die Mütter befragt, bekommt man ganz sicher die Information, dass die ganze Last auf ihren Füßen gelandet ist. Während, wenn man die Väter befragt, diese sagen, dass sie sich absolut ausgeweitet haben während Corona. Da ist einfach die Sichtweise eine andere und da kommt man leider mit diesen Befragungsdaten auch nicht weiter. Man bekommt die Sichtweise von Vätern und die Sichtweise von Müttern und die passen dann oft nicht ganz zusammen. Denn, was man im Haushalt leistet und ob der eigene Anteil größer ist, oder der des Partners, da hat man sehr subjektive Vorstellungen von.

Also relativiert das die Aussage, dass die Last hauptsächlich auf den Schultern der Frauen liegt?

Nein. Das ist ja weiterhin so. Die Last liegt hauptsächlich auf den Schultern der Frauen. Das war schon vorher so. Das heißt, an der Ungleichheit hat sich kaum was verändert. Es haben sich nur bestimmte Konstellationen ergeben, in denen sich Männer durchaus auch mehr um ihre Kinde gekümmert haben und andere Konstellationen, wo sie sich weniger gekümmert haben, sodass im Schnitt diese Corona-Krise weder zu einer Retraditionalisierung geführt hat, noch hat sie dazu geführt, dass sich die Männer in der großen Masse viel mehr um die Kinder kümmern, als das relativ zu den Frauen vor der Corona-Krise der Fall war. Das heißt, an dem Verhältnis der Mütter-Väter-Beteiligung hat sich im Schnitt sich so viel verändert. Aber natürlich kann man überlegen, dass man sagt, es gibt bestimmte neue Gruppen von Vätern, nämlich die schlecht oder mittelqualifizierten, die durch Kurzarbeit jetzt mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Vielleicht gibt es da ja langfristige Effekte für Gruppen, die normalerweise gar nicht so als die Speerspitze aktiver Vaterschaft bekannt sind.

Genau darauf wollte ich hinaus; was uns das jetzt zeigen könnte für eine Entwicklung. Vielleicht einfach ein positiver Wink, dass da eine Entwicklung vor sich geht und, dass selbst die Pandemie da vielleicht sogar ihren Beitrag zugegeben hat, dass die Väter sich mehr einbringen. Ob sich das abzeichnet für zukünftige Entwicklungen?

Im Moment kann man, glaube ich, noch sehr wenig darüber sagen. Was ich glaube, bei dieser Retraditionalisierungsdebatte: Ich finde diese Hypothese total wichtig, Jutta Allmendinger5 hat diese damals eingebracht – und ich finde auch absolut gut, dass sie das getan hat. Sie stellt hervor, dass Entwicklungen wie die Elternzeit und der Ausbau der Kinderbetreuung, die noch nicht ganz so alt sind, und der Wandel der Gesellschaft in Deutschland zu mehr Gleichheit und mehr partnerschaftlicher Arbeitsteilung [geführt hat]. Das sind ja junge Entwicklungen. Das ist eine ganz zarte Pflanze, würde ich jetzt mal sagen. Da besteht die Gefahr, dass diese Pflanze durch bestimmte Umstände erdrückt wird. Also, dass die Hypothese mal diskutiert und in den Raum gestellt wird, ist wirklich sehr wichtig. Wir sehen jetzt erstmal in dieser ersten Phase nicht, dass da viel kaputtgemacht wurde, was vielleicht vorher aufgebaut worden ist. Sondern, wir sehen auch, da gibt es vielleicht auch neue Potentiale, dadurch, dass durch Kurzarbeit zum Beispiel Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbracht haben. Aber es ist jetzt zu früh zu sagen, dass es vielleicht auch langfristige positive Entwicklungen hat. Wir können nicht sagen, ob das jetzt auch zukunftsrelevant ist, dass Väter, die jetzt vielleicht in Kurzarbeit waren, mehr Zeit mit ihren Kindern verbracht haben. Was wir schon sagen können, ist sehr klar, dass dieser ganze Digitalisierungsschub, der mit Corona einhergegangen ist, also das Homeoffice, wo wir ja heute auch alle sitzen, das ist natürlich eine Erwerbsform, die für die Vereinbarkeit von Kind und Beruf viel einfacher ist und auch den Berufseinstieg vereinfacht und alles, was damit zusammenhängt.  Ich denke, dass Corona hier durchaus einen langfristigen positiven Einfluss auf die Vereinbarkeit von Beruf und Kind haben wird. Ein anderer Aspekt wird auch noch langfristig von Bedeutung sein. So wie es auch schon die globale Finanzkrise eigentlich Paaren sehr gut gezeigt hat, dass das Modell nicht geht, wenn der eine arbeitet und der andere zu Hause ist. Das ist schon eine sehr labile Konstellation. Es kann immer sein, dass der eine oder andere seinen Job verliert und, dass es das Interesse beider ist, dass man sich gegenseitig unterstützt, was Kinderbetreuung und die berufliche Karriere betrifft. Ich denke, dass hat Corona eigentlich nochmal gezeigt.

 

Die thematisierten Forschungen von Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld:

Kreyenfeld, M; Zinn, S (2021): Coronavirus and care: How the coronavirus crisis affected father’s involvment in Germany. Demographic Research, Vol. 44, S. 99.124. DOI: 10.4054/DemRes.2021.44.4

 

Weitere Informationen:

1 Informationen zur Person (Hertie-School-Homepage):  https://www.hertie-school.org/en/who-we-are/profile/person/kreyenfeld/ [29.04.2021]

Informationen zur Person (DGD-Homepage): https://dgd-online.de/die-dgd/vorstand/ [29.04.2021]

² Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin und Humboldt Universität zu Berlin:  https://www.diw.de/de/diw_01.c.617912.de/personen/zinn__sabine.html [24.06.2021]

3 https://www.diw.de/de/diw_01.c.678568.de/
forschungsdatenzentrum_soep.html
[29.04.2021]

4 https://iab.de/ [29.04.2021]

5 https://newsroom.iza.org/de/archive/news/geschlechterrollen-in-corona-zeiten-kommt-es-zur-retraditionalisierung/ [29.04.2021]

6 https://www.iab-forum.de/glossar/hopp-befragung/ [29.04.2021]

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Folge 5: Covid-19 und Care-Arbeit, Interview mit Dr. Sonja Bastin

Demografie und Gesellschaft im Fokus Folge 5:  Covid-19 und Care-Arbeit, Interview mit Dr. Sonja Bastin

Hallo und herzlich willkommen beim Podcast der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Wir befinden uns heute im Gespräch mit Frau Dr. Sonja Bastin rund um das Thema „Covid-19 und Care-Arbeit“. Das Gespräch wurde am 19.01.2021 aufgezeichnet. Zunächst ein paar Worte zu Frau Dr. Bastin1: Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Themen ihrer Forschung sind Lebenslauf, Familie und Arbeit und somit auch die private Care-Arbeit.

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Hallo Frau Bastin, wir freuen uns, Sie in unserer neuen Folge begrüßen zu dürfen. Im Zuge der Pandemie beschäftigen Sie sich mit der Care-Arbeit. Würden Sie uns bitte kurz erläutern, was genau dieser Begriff bezeichnet?

Ja, gern. Ich freue mich auch über die Einladung und, dass ich hier sprechen kann. Also im Deutschen ist der Begriff „Care-Arbeit“ am ehesten mit dem Begriff Sorgearbeit oder Reproduktionsarbeit zu übersetzen und wir unterschieden zwischen der bezahlten und der unbezahlten Sorgearbeit und gleichzeitig hängen aber beide Bereiche auf verschiedene Weise ganz eng miteinander zusammen, was dann in unserem Gespräch noch deutlicher wird. Zunächst mal sind mit unbezahlten Sorgearbeiten alle Tätigkeiten der Pflege, Zuwendung und Fürsorge für den eigenen Haushalt und seine Mitglieder, oder ehrenamtlich für andere Haushalte, gemeint: Zum Beispiel Kochen, Waschen, Putzen, Einkaufen, Kinder erziehen, Kranke versorgen. Im zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung2 beispielsweise wurden dann auch Arbeiten wie Gartenpflege, Reparaturen, Einkaufen oder Behördengänge gefasst – also ein sehr weiter Care-Begriff. Was dazu dann noch wichtig ist, ist, dass außerdem hier eine Einteilung unternommen wurde. Nämlich einmal in direkte Care-Arbeiten und unterstützende Care-Arbeiten. Es ist deshalb eine wichtige Unterscheidung, weil die direkten Care-Arbeiten im Grunde niemals aufschiebbar sind – sie fallen auch am Wochenende an, auch im Urlaub. Also; ich kann nicht mal eben ein paar Stunden oder auch Minuten aufschieben das Kind zu trösten, oder dem pflegebedürftigen Vater auf die Toilette zu helfen, während ich Reparaturen oder den Einkauf viel besser timen kann, sodass ich dann auch berufliche Termine oder das Socializing mit den Arbeitskollegen, oder auch einfach nur das einmal kurz Durchatmen, viel besser einflechten kann, wenn ich nur für diese unterstützenden Tätigkeiten verantwortlich bin. Beim Punkt Verantwortung ist dann noch ein ganz wichtiger weiterer Aspekt von Care-Arbeit zu nennen, der eigentlich Unsichtbarste, der sogenannte Mental-Load. Denn, die hochverantwortungsvolle Care-Arbeit birgt eben auch viel gedankliche und mentale Last, diese Tätigkeiten auch gut auszuführen, weil ich eben in hohem Maße verantwortlich bin für andere Menschen. Auch die mentale Last, diese ganzen Aufgaben zu organisieren. Sie erfordert ein hohes Maß an empathischer Kompetenz, an Gefühlsarbeit, weil sie so nah mit Menschen stattfindet. Auch deshalb sind die psychischen und seelischen Belastungen von Care-ArbeiterInnen sehr hoch. Das zusätzlich, weil, da kommen wir schon immer tiefer in die Zusammenhänge rein, unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht ausreichend Zeit für diese Arbeiten einräumt, sodass viele Dinge mental auch gleichzeitig aufeinanderprallen. Der Fokus liegt in unserem System auf der bezahlten Arbeit, der Erwerbsarbeit, was mit den neoliberalen kapitalistischen Strukturen zu tun hat, die sich darauf gründen, dass irgendwann mal beschlossen wurde; Arbeiten außerhalb des Haushalts, gerade industrielle, produktive Arbeit wird bezahlt, während Hausarbeit und Kindererziehung zu Hause stattfindet, traditioneller Weise von Frauen ausgeübt wird und unbezahlt bleibt. Gleichzeitig ist es aber so, dass all diese Arbeiten grundsätzlich auch professionalisierbar sind und dann werden sie eben auch vergütet. Das sehen wir in der externen Kinderbetreuung, in der Krankenpflege, bei Reinigungskräften, beziehungsweise bei allen haushaltsnahen Dienstleistungen.

Frau Bastin, das bringt mich ja zu dem nächsten Wort, was jetzt in der Pandemie sehr geprägt wurde, dieses „systemrelevante“. Was fassen Sie denn unter diesem Begriff?

Das ist ein Begriff der eigentlich zu Beginn des ersten Lockdowns aufgekommen ist und diejenigen Tätigkeiten bezeichnet hat, die man tatsächlich keinen Tag lang niederlegen kann, weil sie eben unsere Grundbedürfnisse betreffen. Gerade im Gesundheits- und Pflegesektor. Da standen dann plötzlich die im Rampenlicht, die sonst so wenig beachtet werden, weil ja offenbar das, was sie leisten, so wenig profitabel ist. Deswegen wurden sie lange so wenig beachtet. Allen wurde da dann plötzlich, und bislang leider eher folgenlos klar, wie abhängig wir von diesen Menschen sind; von den PflegerInnen auf den Intensivstationen, welche Auswirkungen es auf uns alle hat, dass die Kapazitäten da so gering sind und, dass die Arbeitsbedingungen und Löhne auch ausgerechnet für diese systemrelevanten Bereiche so ungenügend sind. Interessanter Weise, ist das Gleiche dann nicht mit dem Bereich der privaten Sorgearbeit passiert. Dorthin wurde und wird weitgehend noch immer, unkompensiert, oder zumindest alles andere als angemessen kompensiert, riesig viel mehr Sorgearbeit geschoben, indem Schulen und Kitas geschlossen wurden, ohne gleichzeitig und auch umgehend dafür zu sorgen, dass auch genug ökonomisch abgesicherte Zeit besteht, um diese Sorgearbeit ausführen zu können. Sogar die Bundesfamilienministerin hat ja noch im Mai gesagt, dass Homeoffice mit Kindern anstrengend sei, aber möglich. Sie hat damit sehr deutlich ausgesprochen, was in den Strukturen tief verwurzelt ist, nämlich, dass Sorgearbeit nicht als Arbeit anerkannt wird. Das, obwohl sie ja höchst systemrelevant ist. Man müsste sogar eher sagen „systemkritisch“, weil sie Grundbedürfnisse bedient und eben keinen Tag lang ausgesetzt bleiben kann. Was wir beobachtet hatten und immer noch beobachten zu ganz weitreichenden Teilen, ist, dass nicht anerkannt wurde, dass Kinder betreuen, bilden, sich auf ihre anderen Bedürfnisse einstellen, gerade jetzt beim Wegfallen von so viel Normalität in ihrem Leben, dass das viel Zeit kostet, die nicht über Wochen und Monate zusätzlich erledigt werden kann, ohne dass die Betroffenen Schaden davon nehmen. Die Folgen, die tatsächlich auch absehbar waren und vor denen etliche WissenschaftlerInnen auch gewarnt haben, die sind jetzt vielfältig beobachtbar. Zum anderen wird private Care-Arbeit insofern auch noch immer nicht als Arbeit verstanden, als dass nicht gesehen wird, nicht kommuniziert wird, wie abhängig wir alle davon sind. Dass eben Eltern beispielsweise diese Arbeit leisten und das, obwohl unser ganzes System darauf baut, dass neue, die Volkswirtschaft tragende Gesellschaftsmitglieder versorgt werden.

Zumal es ja auch nicht jedem liegt. Also Sie sprachen schon an – das Homeschooling. Natürlich kann man davon ausgehen, dass man das so „nebenbei“ macht, aber es liegt ja auch einfach nicht jedem, nicht jeder kann adäquat auffangen, was eine Schule leisten könnte und genauso ist es ja auch in der Pflegearbeit.

Genau. Da habe ich dieses Bild vor Augen, was man ja immer so schön sagt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“. Das zeigt sich da einfach so sehr, dass wir eben alle darauf angewiesen sind, dass wir das alle gemeinsam machen und nicht, dass immer wieder sehr stark auf Eltern, insbesondere auf Mütter abgeschoben wird. Da sind wir nahe an der Sache, dass es eben ein Gefälle gibt zwischen Männern und Frauen und das war eben schon vor der Krise so, dass die Tatsache, dass Care-Arbeit eben so schlecht oder unbezahlt ist, deshalb zu sozialer Ungleichheit führt, weil sie eben in der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Zum einen zwischen Haushalten mit und ohne Kinder, oder zu pflegenden Angehörigen und zum anderen, zwischen Männern und Frauen in Paarhaushalten, was sich eben aus den gewachsenen Strukturen auch erklären lässt. Wenn wir da vielleicht ein paar Kennzahlen nennen wollen; Frauen leisten sehr viel mehr unbezahlte Care-Arbeit als Männer, nämlich über 50% mehr, und wenn kleine Kinder mit im Haushalt leben, sind es sogar über 80 % mehr. Wenn wir uns nur auf die direkte Care-Arbeit beziehen, die also am Menschen stattfindet, dann ist es sogar über 100% mehr, wenn Kinder im Haushalt leben. Gerade diese Arbeit schafft ja so viel Unflexibilität und auch Mental-Load. Dieser Mental-Load ist in diesen Zahlen tatsächlich noch nicht einmal drin, weil wir den so schlecht messen können. Das hat eben viel damit zu tun, welche Strukturen wir in Deutschland, aber eben auch in vielen anderen Ländern beobachten, in denen dieser Care-Gap auch zu groß ist. Zum einen haben wir in Deutschland immer noch recht konservative soziale Normen. Dieses Abschieben der Arbeiten in das Private, das ist das sogenannte Subsidaritätsprinzip. Das kennzeichnet den konservativen Wohlfahrtstaat, dieses Kümmern wird ganz deutlich als Privatangelegenheit verstanden. Wenn Menschen auf Unterstützung angewiesen sind, ist es immer in erster Linie die Familie, die da zur Verantwortung gezogen wird. Außerdem führen die Strukturen dazu, dass wir zum Beispiel auch ein großes Lohngefälle, Pay-Gap, haben zwischen Männern und Frauen. Gerade in Verbindung mit dem Ehegattensplitting führt es dann immer wieder dazu, spätestens, wenn dann Kinder kommen, dass die Mutter mehr Erwerbstätigkeit reduziert als der Vater, mit allen individuellen Folgen für den Erwerbs- und den Rentenverlauf. Da kommt dann auch wieder die Verbindung zur beruflichen Care-Arbeit ins Spiel, denn auch diese wird zu großem Teil, zu über 80 %, von Frauen geleistet. Sie wird schlecht bezahlt und findet unter knappgesparten Bedingungen statt, die oft dazu führen, dass die Ausübenden nicht jahrzehntelang voll arbeiten können. Das alles trägt dann wieder zu diesem Pay-Gap bei. Das heißt, auch um das Machtgefälle innerhalb von Partnerschaften zu verändern, ist es wichtig, dass wir gleichwertige Arbeit endlich auch mit gleichen Löhnen bezahlen und nicht ausgerichtet daran, welcher derzeit auf dem Markt verwertbarer Output entsteht. Das ist auch deshalb wichtig, weil diese Orientierung daran, was auf dem kapitalistischen Markt Gewinne erbringt, einen zu starken Druck auf diese Care-Tätigkeiten ausübt, die eben nicht immer gewinnsteigernder ausgeübt werden können. Wir können nicht immer schneller Kinder erziehen, immer schneller Alte pflegen. Die Ökonomisierung dieser Bereiche birgt große Probleme. Zum einen, für die Ausübenden, aber auch für die Inanspruchnehmenden selbst, also die Menschen, die Pflege bedürfen und Sorgearbeit in Anspruch nehmen. Wir müssen uns bewusst machen: wir sind von diesen Arbeiten abhängig. Ein Drittel unseres Lebens sind wir auf Care-Arbeit angewiesen, weil wir zu jung, zu alt oder zu krank sind, um uns allein zu versorgen. Wir sind darauf angewiesen, dass diese neuen Gesellschaftsmitglieder gesund heranwachsen können. Wir nehmen uns mit diesem Umgang der Care-Arbeit aktuell unsere eigentliche Lebensgrundlage, ähnlich wie wir es mit unserem nicht nachhaltigen Umgang mit Umweltressourcen machen. Es entstehen direkt eine ganze Reihe von Verwerfungen für die Ausübenden. Es führt dazu, dass Care-ArbeiterInnen – bezahlte und unbezahlte – meistens Frauen, zum einen häufig ökonomisch sehr eng an einen Partner gebunden sind. Es fördert also auch den Verbleib in problematischen Partnerschaften. Es fördert, dass Kinder alleinerziehender Frauen sehr häufig von Armut bedroht sind, obwohl diese Frauen eben mit ihrer Care-Arbeit häufig zusätzlich zur Erwerbsarbeit wahnsinnig viel leisten für unser Gesellschaftssystem. Und zum anderen führt diese Missachtung der Care-Arbeit, wie gesagt, zu großen Überlastungsrisiken. Beispielsweise der Dauerstress von berufstätigen Eltern ist ein systematisches Problem, kein individuelles. Da müssen wir an die Ursachen ran. Da müssen wir vor allen Dingen verstehen, wie nicht nur in der ungleichen Verteilung zwischen Männern und Frauen in dem Gender-Care-Gap, sondern sich auch die Gesellschaft sich zu wenig an der privaten Care-Arbeit beteiligt. Das haben wir jetzt in der Pandemie deutlich gesehen, weil Eltern alleingelassen wurden: A) mit dem Risiko, welches sich auf dem Erwerbsmarkt ergibt, wenn sie diesem fernbleiben und B) mit der Verantwortung, dem Wohlbefinden und der Bildung der Kinder. Es gibt keinen Kündigungsschutz für Eltern, keinen Schutz vor Diskriminierung auf dem Erwerbsmarkt, es gibt keine verlässliche Lohnersatzleistung, in einer Höhe die es auch Vätern gut erlaubt, zuhause zu bleiben. Es gibt nicht einmal eine Planungssicherheit in einer Form, dass wir wenigstens jetzt im zweiten Lockdown wissen: Wir werden mit unserer vielen, doppelten und dreifachen Arbeit gesehen und die Gesellschaft beteiligt sich endlich angemessen.
Gerade bei Müttern ist es so, dass deren ohnehin schon riesiger Care-Berg nun durch das weitere Anwachsen, noch seltener vereinbar ist, mit den hohen Leistungen, die der Erwerbsmarkt fordert und gleichzeitig einer gesunden Lebensweise. Wir sehen das jetzt auch in schon empirischen Daten – ihr Wohlbefinden und ihre Erwerbstätigkeit haben aufgrund der Care-Last noch empfindlicher gelitten, als es vor der Pandemie der Fall war. Es ist absehbar, dass die „Mütterdiskriminierung“ zunehmen wird, weil alle gelernt haben, dass Eltern unzuverlässige ArbeitnehmerInnen sind und es vor allem auf Mütter zurückfallen wird. Viele Mütter werden sich gar nicht erst bewerben aufgrund der Last und der Unsicherheit und das wird langfristige Auswirkungen auf die ökonomische Handlungsfähigkeit der Frauen haben. Die finanzielle Abhängigkeit steigt und es werden noch weniger Frauen in Entscheidungspositionen sein. Das ist dann wieder ein Teufelskreis für ihre Situation. Dafür werden eben mehr Frauen zuhause sichtbar sein und ihren Kindern eben vorleben, dass Kindererziehung und Haushalt von Müttern erledigt wird.

Aber sehen Sie es auch als eine Chance, dass die Pandemie diese Missstände nun noch mehr aufzeigt und vielleicht auch diese Systemrelevanz ein bisschen mehr an die Oberfläche bringt, um diese Missstände anzugehen?

Das wäre schön. Das Problem ist, dass vulnerable Gruppen am meisten unter diesen Krisen leiden, weil sie geringe politische und ökonomische Macht besitzen. Das heißt, wir kommen nur deshalb in diese Probleme rein, weil wir sie vorher auch schon hatten. Deshalb wäre es ganz wichtig, sie von Anfang an zu sehen und dann entsprechend jetzt schon die ganze Zeit begleitende Maßnahmen zu fahren, damit diese Probleme nicht so schlimm werden. Gleichzeitig besteht hier eine Gefahr, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet und genau das beobachten wir derzeit. Beispielsweise wenn es um die Impfbereitschaft von Pflegepersonal geht. Ich muss sagen, ohne jetzt dieses düstere Bild zeichnen zu wollen – darum geht es ja nicht – sondern darum, dass diese Risiken anerkannt werden, die ernsthaft bestehen und auch datenbasiert bestehen. Genauso, wie VirologInnen nicht erst warten müssen, bis die halbe Bevölkerung vom Virus dahingerafft ist, muss man präventiv eingreifen. Das ist in den Sozialwissenschaften und bei strukturellen Dingen genau die gleiche Sache. Denn es besteht die Gefahr, dass wir die Care-Ressourcen so stark ausnutzen, dass die Care-Krise jetzt noch viel schneller gravierend wird. Wenn sich nach dieser Krise, so deutet es sich gerade an, noch mehr Pflegekräfte aus der Pflege verabschieden, oder wenn sich noch mehr Menschen gegen erste oder weitere Kinder entscheiden, dann vergrößern sich alleine schon unsere Fachkräfteprobleme viel schneller.

Wie sähe denn ein Weg in ein besseres Verhältnis aus? Also, können Sie uns vielleicht abschließend noch etwas zu dem „Equal Care Manifest“3 erzählen?

Was wir müssen, ist eigentlich wieder die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse als Maßstab bei allen Entscheidungen zu nehmen. Dazu zählt ein nachhaltiger Umgang mit Umwelt-Ressourcen. Ich glaube das ist mittlerweile Common Sense, auch wenn man es nicht unbedingt in der Praxis überall angekommen ist. Aber eben auch, dass Care-Tätigkeiten dauerhaft qualitativ hochwertig ausgeübt werden können, ohne, dass Benachteiligungen für die Ausübenden entstehen. Wir müssen eine Umlage von den Finanz- und Kapitalmärkten schaffen, dorthin, wo diese Grundbedürfnisse befriedigt werden. Zum Beispiel: Wir wissen, dass eine IT-Fachkraft 17 Euro mehr in der Stunde bekommt, als eine Fachkraft aus dem Sorgebereich, deren Arbeit aber vergleichbare Belastungen und Anforderungen mitbringt. Da müssen Umbewertungen stattfinden. Das ist eine Forderung des Equal Care Mainfests. Genauso müssen wir bei der privaten Sorgearbeit umdenken. Zum einen insofern, dass gerade Väter noch mehr Möglichkeiten bekommen, das zu tun, was sie auch möchten und ihrer Care-Verantwortung nachkommen, indem beispielsweise die Partnermonate der Elternzeit erweitert werden, in dem Vaterschutzzeiten nach der Geburt von Kindern eingeführt werden und so weiter. Vor allem aber müssen wir endlich die Gesellschaft viel stärker an der privaten Sorgearbeit beteiligen, als es bisher der Fall ist. Wir müssen diesen Gedanken aufgeben, dass es reicht, die Sorgearbeit besser zwischen Vätern und Müttern zu verteilen. Eine Idee ist hier eine allgemeine Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 30 Stunden, verbunden mit zusätzlichen Leistungen für alle gemeinnützigen Aufgaben, zum Beispiel Kindererziehung, Pflege oder aber auch ehrenamtliche Tätigkeiten. Es gibt so vieles, was wir gesellschaftlich bringen, tun, wollen und sollen, aber den Menschen fehlen eben die zeitlichen und ökonomischen Mittel dazu. Weitere Forderungen des Equal Care Manifests sind zum Beispiel auch die Förderung von angemessen entlohnten sozialversicherten haushaltsnahen Dienstleistungen, weil wir da gute Erfahrungen aus dem Ausland haben. Dort hat sich dieses Instrument tatsächlich auch in Krisenzeiten als ein gutes arbeitsmarktpolitisches Instrument erwiesen, um Menschen wieder in Beschäftigungen zu kriegen. Das ist wieder auch nötig, um die häufig prekären Beschäftigungssituationen von oft illegalen in Haushalten Arbeitenden, meist Migrantinnen, zu verbessernEng daran gekoppelt ist auch eine Forderung des Equal Care Manifests, dass die Care-Krise grundsätzlich nicht damit gelöst werden darf, dass durch Nutzung von SorgearbeiterInnen aus dem Ausland, dort dann neue Lücken im Care-System entstehen, des sogenannten Care Chains.

Weil die sich dann wiederum nicht um ihre Familie zuhause kümmern können, so zu sagen?

Genau. Und als letztes ist es so, dass es im Equal Care Manifest ganz entscheidend darum geht, die Sichtbarkeit des Wertes aus Care-Arbeit zu erhöhen. Damit sie endlich nachhaltig in allen Entscheidungen berücksichtigt wird, durch den Einbezug dieser Arbeit in volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und unbedingt auch in einer expliziten Thematisierung, zum Beispiel im Schulunterricht. Anstatt Mädchen weiterhin unkommentiert Puppen und Spielküchen zu schenken und Jungen technisches Spielzeug, müssen wir gerade mit Kindern von Beginn an darüber sprechen, was es aktuell in unserer Gesellschaft bedeutet, Care-Arbeit zu leisten und was es für uns alle bedeutet, wenn das aber für den Einzelnen immer unattraktiver wird, sie zu leisten. Das sind so die Hauptforderungen des Equal Care Manifests, aber das kann man gerne auch weiter noch nachlesen und auch weiter unterstützen.

Damit bedanke ich mich für das Gespräch. Es lässt viel zum Nachdenken und zum „Noch-mehr-um-sich-Herumschauen“. Vielen Dank.

Beiträge von Frau Dr. Bastin:

weitere Informationen

1 https://www.socium.uni-bremen.de/ueber-das-socium/mitglieder/sonja-bastin/ [21.02.2021]

2 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2018): Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/zweiter-gleichstellungsbericht-der-bundesregierung-119796 [26.02.2021]

3 Equal Care Manifest, 19.5.2020, https://equalcareday.de/manifest [26.02.2021]

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Folge 4: Das Zusammenspiel von Geschlecht und Alter in der Covid-19-Pandemie, Interview mit Prof. Dr. Gabriele Doblhammer und Dr. Achim Dörre

 

Demografie und Gesellschaft im Fokus Folge 4:  Das Zusammenspiel von Geschlecht und Alter in der Covid-19-Pandemie, Interview mit Prof. Dr. Gabriele Doblhammer und Dr. Achim Dörre

Herzlich willkommen zu einer neuen Folge des Podcast der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Das Gespräch haben wir am 12. Januar 2021 aufgezeichnet. Dieses Mal begrüßen wir Gabriele Doblhammer und Achim Dörre. Der Titel ihrer Forschung, auf die sie heute eingehen werden, lautet: “The Effect of Gender on Covid-19 Infections and Mortality in Germany: Insights From Age- and Sex-Specific Modelling of Contact Rates, Infections, and Deaths”.
Prof. Dr. Gabriele Doblhammer ist Inhaberin des Lehrstuhls für „Empirische Sozialforschung und Demographie“, am Institut für Soziologie und Demographie, an der Universität Rostock. Sie ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Demographie und darüber hinaus Mitglied in vielen anderen Forschungsinstituten. Ihre Arbeit widmet sich unter anderem der Demenzforschung und selbstverständlich auch der Demographie.
Dr. Achim Dörre ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie am Institut für Volkswirtschaftslehre an der Universität Rostock. In seiner Forschung befasst er sich mit der Entwicklung statistischer Verfahren zur Behandlung fehlender Daten in Lebensdauerstudien. Die simulativen Untersuchungsansätze, die bei dieser Forschung eine große Rolle spielen, sind auch bei der Modellierung der Covid-19-Pandemie von zentraler Bedeutung.

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Ich begrüße Sie recht herzlich, Frau Doblhammer und Herr Dörre, zu unserem Interview heute. Starten wir gleich direkt mit der Veröffentlichung, über die wir heute sprechen wollen: Worum geht es in Ihrer Forschung?

Herr Dörre, wollen Sie vielleicht beginnen?

Dörre: Ja gerne. Hallo. Es geht um Covid-19. Das wahrscheinlich wichtigste, größte Thema des Jahres 2020 und 2021; um die Verbreitung des Virus, die Verbreitung der Krankheit und Auswirkungen auf die Bevölkerung. Wir haben uns damit befasst, wie unterschiedliche Altersgruppen und die unterschiedlichen Geschlechter sich in diesem Zusammenhang auswirken können. Wir wollten ganz explizit auch eine Modellierung entwickeln, bei der nicht nur die unterschiedlichen Größen der Bevölkerungsgruppen beachtet werden, sondern auch das unterschiedliche Kontaktverhalten zwischen den Gruppen. Weil es für uns eine sehr große Frage war, wie sich unterschiedliche Lockdown-Maßnahmen auswirken auf die Geschwindigkeit der Verbreitung des Virus, oder auch auf die Anzahl der Sterbefälle, die Anzahl der Personen, die schwere Verläufe haben, und wie die Pandemie effektiv begrenzt werden kann. Das ist der große Hintergrund unserer Arbeit.

Also sind Sie, weil Sie von Gruppen sprachen, sind Sie also über die Gruppe Männer und Frauen gegangen um das Geschehen in dieser Weise ein bisschen genauer anschauen zu können?

Dörre: Genau, Männer und Frauen,und auch die unterschiedlichen Altersgruppen. Zum Beispiel Frauen im Alter von 30 bis 39, Männer im Alter von 70 bis 79, und so weiter. Das Ganze ist relevant, weil eben das Kontaktverhalten sich stark unterscheidet, je nach Altersgruppe und Geschlecht finden Kontakte unterschiedlich intensiv statt, zumindest vor der Pandemie. Das sind dann Informationen, die man verwenden kann, bevor Corona ein Thema war.

Die Einteilung nach Geschlechter und Alter, das ist ja schon sehr demographisch und unser Podcast heißt ja auch „Demografie und Gesellschaft im Fokus“ – das heißt, da liegt es nahe zu fragen, was nun der besondere Beitrag der Demographie für Ihre Forschung ist.

Doblhammer: Demographen sagen immer, die beiden wichtigsten Variablen, die wir betrachten müssen, sind Alter und Geschlecht. Als Herr Dörre und ich uns am Anfang gemeinsam die epidemiologischen Modelle angeschaut haben, die es zur Vorhersage von Infektionserkrankungen gibt, war ganz klar, dass Alter oft nicht und Geschlecht eigentlich überhaupt nie enthalten war. Deswegen haben wir gesagt, wenn wir jetzt tatsächlich das Ausbreitungsgeschehen modellieren wollen und auch wissen wollen, über welche Pfade diese Virusinfektionen laufen, dann brauchen wir beides. Wir brauchen Alter in dem Modell und wir brauchen Geschlecht. Das war der Punkt, wo die Demographie einen Beitrag leisten konnte. Herr Dörre hat dann ein entsprechendes epidemiologisches Modell entwickelt, in dem Alter und Geschlecht explizit mitberücksichtigt wurden. Er hat dazu auf bestehende epidemiologische Modelle zurückgegriffen und diese dann entsprechend weiterentwickelt.

Jetzt haben wir das Wort „Modell“ und „berechnet“ schon so oft gehört; vielleicht greife ich diese Frage einfach mal vor: Was versteht man denn unter „Modelle berechnen“ oder, in Ihren Forschungsergebnissen sieht man ja auch, dass Sie „Szenarien“ berechnet haben. Was bedeutet das? Wie könnte man das jemandem erklären, der nicht vom Fach ist?

Dörre: Da hake ich gerne ein. Wie kann man sich das vorstellen? Grundsätzlich ist es so, dass Pandemien ein sehr dynamischer Prozess sind, also eine Entwicklung darstellen, die sich schwer konkret vorhersagen lässt. Eine Möglichkeit darauf zu reagieren, ist es, sich Szenarien anzusehen, also hypothetische Situationen. In dem Fall, konkret in Bezug auf das Kontaktverhalten der Bevölkerung. Szenarien sind wichtig, weil z.B das Idealziel dabei ist, die Effektivität unterschiedlicher Lockdown-Maßnahmen einzuschätzen. Aber es ist eben nicht das Ziel, eine konkrete Vorhersage von Infektions- oder Todeszahlen anzustreben. Das ist kaum möglich, denke ich. Dafür gibt es einfach zu viele überlagernde Effekte, die sich nicht genau quantifizieren lassen. Auch einfach deshalb, weil einige Eigenschaften des Virus noch nicht hinreichend bekannt sind. Deswegen gehen wir eben diesen Weg, dass wir hypothetische Entwicklungen beschreiben, quasi den Verlauf der Pandemie unter gewissen Bedingungen, zigtausend Mal durchspielen. Also immer wieder neu den zufälligen Prozess anstoßen und dann am Ende schauen, in wieviel Prozent der Fälle gab es jetzt einen besonders starken Anstieg der Infektionszahlen, oder in wieviel Prozent der Fälle gab‘s keinen besonders starken Anstieg? Da insbesondere dann, im Vergleich der Szenarien. Also ein Szenario könnte beispielsweise sein: die Schulen werden wieder geöffnet. Wie stark lässt sich der Effekt dann auf die Infektionszahlen im Verlauf der nächsten zwei Monate quantifizieren? Und das ist eben eine Sache, die man so auch tatsächlich sich nur in Modellen, also in konkreten Szenarien überlegen kann, einfach, weil die Pandemie, die wir beobachten, natürlich nur einmal stattfindet. Also am Ende ist man immer schlauer sozusagen und weiß, wie es dann tatsächlich ausgegangen ist. Szenarien sind wirklich sehr wichtig, um hypothetische Entwicklungen beschreiben zu können.

Dankeschön, das macht doch einiges deutlicher. Und dann können wir jetzt nämlich jetzt auch ein bisschen tiefer in Ihr Paper oder Ihre Veröffentlichung eingehen. In Vorbereitung auf diesen Podcast habe ich mir natürlich auch die Forschung durchgelesen und da ist mir gleich zu Anfang ein Diagramm aufgefallen wo Sie das Verhältnis der Infektionsraten von Männern zu Frauen zeigen. Über die, wie Sie schon genannt haben, verschiedenen Altersgruppen hinweg. Und Sie unterscheiden auch nach Bundesländern. Welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus? Also auf dem ersten Blick schien es mir, dass Berlin, Hamburg und Bremen im Alter von 0 bis 59 Jahren doch ein gleichmäßigeres Verhältnis an Infektionen von Männern zu Frauen  haben als die anderen Bundesländer. Wie erklärt sich das?

Doblhammer: Das war eigentlich der Ausgang unserer Forschungsfrage. Die Grafik, die Sie ansprechen, beschreibt, ob es mehr Infektionen bezogen auf die Anzahl der Bevölkerung in der jeweiligen Altersgruppe unter Frauen gibt oder unter Männern. Jetzt ist es so, dass wir wissen, dass Männer eine höhere Covid-19 Sterblichkeit haben das heißt, sie haben schwerere Verläufe, sie haben eine höhere Sterblichkeit, aber bei den Infektionen sieht das anders aus. Und zwar muss man da nach Altersgruppen unterteilen und das ist das, was wir gemacht haben. Man sieht hier, dass bis zum Alter von etwa 60 Jahren Frauen häufiger von Infektionen betroffen sind als Männer und über 60 Jahren, so zwischen 60 und 80, sind eindeutig die Männer häufiger von Infektionen betroffen und dann ab 80, sind in etwa Männer und Frauen gleich betroffen.  Also der Punkt, der uns hier verwundert hat, nicht nur uns, sondern auch andere Wissenschaftler, ist: Warum sind Frauen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren häufiger von Infektionen mit Covid-19 betroffen als Männer?

Wo haben Sie denn Ihre Zahlen her? Wir haben im Laufe der verschieden Podcastfolgen schon auch oft über die Zahlen des RKI1 gesprochen – woher beziehen Sie Ihre Zahlen auf deren Grundlage Sie dann die Szenarien und Modelle berechnen können?

Dörre: Wir verwenden vor allem Daten vom RKI, die berichteten Infektionszahlen, unterteilt nach Alter und Geschlecht.. Was für unsere Untersuchung aber auch enorm wichtig ist, ist eine Untersuchung, die im Jahr 2017² veröffentlicht wurde. Da geht es um die Kontaktraten zwischen den Personen in unterschiedlichen Altersgruppen, zwischen den Geschlechtern, natürlich vor der Pandemie. Das sind Untersuchungen, die durchgeführt wurden, schon mit dem Gedanken: Wie könnte sich ein Virus verbreiten bei einer neuen Pandemie, und ja, das ist wirklich ein enorm wichtiger Bestandteil, dass wir Informationen darüber haben, wie das Kontaktverhalten in der Bevölkerung sich darstellt, also wie intensiv und wie oft sich Personen treffen. Zu guter Letzt gibt es noch eine dritte wichtige Datenquelle, die wir benutzt haben, nämlich die Informationen vom Statistischen Bundesamt über die demographische Verteilung in Deutschland, also wie viele Personen sich in den jeweiligen Altersgruppen befinden, wie viele Personen davon männlich sind und weiblich.

Und die Kontakthäufigkeiten von 2017 übertragen Sie dann sozusagen auf das aktuelle Geschehen?

Dörre: Ja, das sind geschätzte Werte spezifisch für Deutschland. Dieselben Werte gibt es natürlich auch für andere Länder, also Deutschland ist jetzt keine Ausnahme. Das fanden wir jedenfalls ganz sinnvoll und wichtig, dass diese geschätzten Kontaktraten auch wirklich für Gesamtdeutschland plausibel anzuwenden sind. Wir haben diese Kontaktraten dann benutzt, um in einem zweiten Schritt zu schätzen, wie wahrscheinlich eine Ansteckung mit dem Virus ist, jeweils bei einem Kontakt. Also man muss dazu sagen, diese Kontaktraten gelten erstmal allgemein, unabhängig von einer Pandemie natürlich. Das heißt, wenn es da um ein spezielles Virus geht, in dem Fall um das Corona-Virus, dann müssen wir diese Kontaktraten insofern noch gewichten oder anpassen, um die spezifische Übertragungswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen. Das haben wir gemacht, eben für den Zeitraum, in dem es noch keine wesentlichen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung gab. Das war noch im Februar und März 2020 so, sodass wir dann eben möglichst verlässliche Werte haben über das Kontaktverhalten in der Bevölkerung.

Doblhammer: Es ist so, wenn man sich diese Kontaktraten anschaut, dann sieht man auch tatsächlich in diesen Kontakten, dass Frauen in gewissen Altersgruppen mehr Kontakte haben als Männer und zwar im Alter von 20 und 50 Jahren ist es etwa so, dass Frauen ungefähr 20/25 Prozent mehr tägliche Kontakte haben als Männer. Das dreht sich dann im Alter über 60 wieder um, da haben Männer dann mehr Kontakte, etwa 14 Prozent mehr tägliche Kontakte als Frauen. Es geht dann so im Alter um 80 ziemlich weg, dieser Unterschied zwischen Männern und Frauen, da sind die Kontakte in etwa gleich verteilt.

Eigentlich scheint das ja auch naheliegend, einfach durch die Lebensweise der meisten Frauen, an ihren spezifischen Berufen, an der Care-Arbeit, also die Betreuung von Kindern und Pflege von Verwandten beispielsweise. Das Thema ist ja nun auch in Zeiten der Pandemie wieder aktueller. Möchten Sie dann mal zu Ergebnissen kommen? Was hat sich in Ihren Szenarien gezeigt, die sich dann ja schon bestätigt haben mittlerweile?

Dörre: Die eine Erkenntnis, die auch nicht unbedingt neu ist und generell bei dynamischen Prozessen auftreten kann, ist, dass kleine Veränderungen bereits große Auswirkungen haben können. Also kleine Änderungen im Kontaktverhalten führen teilweise wirklich zu spürbaren Effekten in der Pandemie, also in Bezug auf die Infektionszahlen und auch Sterbezahlen. Das ist eben eine Sache, die für das Beenden des Lockdowns relevant sein wird, eben auch, weil eine Rückkehr in einen Lockdown eben auch nicht so schnell erfolgen kann. Generell ist es so, wenn es exponentielle Anstiege gibt bei den Infektionszahlen, das hat man ja auch bei den Infektionszahlen gesehen im Herbst, Anfang des Winters, dann ist auch wirklich nicht mehr so viel Zeit, um wirklich die Kontakte wieder runterzufahren und das können wir eben in unseren Modellen auch nachweisen und sehen. Das ist die eine große Erkenntnis. Die zweite große Erkenntnis ist, dass es altersgruppenübergreifende Phänomene gibt. Damit meine ich, dass was am Anfang und im Herbst oft diskutiert wurde, war die Frage, ob es denn jetzt so wesentlich wäre, bei den Kindern und Jugendlichen die Kontakte wirklich zu beschränken, denn Kinder und Jugendliche, das ist bekannt, haben in der Regel keinen schweren Verlauf, sind auch oft asymptomatisch, also; warum sollte man da so vorsichtig sein, könnte man sich naiv fragen. Aber was wir eben in der Modellierung auch sehen können, in den Szenarien, ist, dass auch, wenn nur zwischen Kindern und Jugendlichen die Kontakte erhöht werden, dann auch die Inzidenz bei älteren Personen steigt, eben durch die Kontakte zwischen den verschiedenen Altersgruppen. Das kann natürlich dann dramatisch sein, wenn man auch an größere Veranstaltungen denkt, an Konzerte oder Festivals, die dann eben, so muss man das befürchten, zu mehr Intensivpatienten führen können, zu mehr Sterbefällen, wenn dann über die verschiedenen Altersgruppen hinweg das Virus übertragen wird.

Doblhammer: Ich glaube, ein interessanter Punkt war auch dass viele dieser Infektionen über die Frauen laufen, einfach, weil sie mehr Kontakte haben. Lockert man gleichermaßen bei Männern und Frauen, dann laufen verhältnismäßig eher Infektionen über die Frauen, weil sie einfach mehr mit anderen in Verbindung treten. Aber das Interessante daran ist auch; getroffen werden mehr die Männer. Dadurch, weil Männer ja „anfälliger“ sind für schwerere Verläufe und Todesfälle. Also Lockerungen führen dazu, dass Infektionen verstärkt über Frauen laufen, weil sie eben in verschieden Berufen eben mehr Kontakte haben, aber getroffen werden die Älteren und dann vor allem die Männer. Das, glaube ich, ist auch noch ein wichtiger Punkt, den man sonst über die Modelle eigentlich nicht so sieht; und gerade das finde ich, ist auch nochmal wichtig in Hinblick darauf, was man daraus für eine Conclusio zieht. Eigentlich müssten wir verstärkt versuchen Kontakte unter Frauen zu minimieren und hier ist ein Punkt, der jetzt auch ganz stark in der Diskussion ist; dass offensichtlich das Potential an Homeoffice noch nicht wirklich ausgeschöpft ist. Das trifft natürlich vor allem auch wieder die Frauen. Also hier wäre zum Beispiel eine Möglichkeit gegeben, wenn man Frauen verstärkt noch ins Homeoffice bringen könnte, dass man hier bei Frauen auch stärker nochmal die Kontakte reduzieren könnte und damit auch die Männer schützt.

Arbeiten Sie denn noch an weiteren Veröffentlichungen? Also, führen Sie Ihre Forschungen auf diesem Feld weiter fort? Die Frage gerne an Sie beide.

Doblhammer: Ja, wir haben eine weitere Studie, wo wir nicht nur nach Geschlecht schauen, in diesem Fall schauen wir da gar nicht nach Geschlecht, sondern uns interessiert da, ob es in der ersten Welle der Infektionen zu Unterschieden nach sozioökonomischen Charakteristiken gegeben hat.  Das weiß man ja aus anderen Ländern, UK oder US, dass dort bestimmte ethnische Gruppen ein höheres Risiko hatten, aber dass es auch ganz stark soziale Unterschiede in den Infektionsraten und nachher vor allem auch in der Sterblichkeit gegeben hat. Für Deutschland gibt’s da keine Studien dazu oder nur einige wenige Studien, die sehr gezielt gewisse Indikatoren sich angeschaut haben zum sozioökonomischen Status. Wir haben hier eine Studie aufgesetzt, wo wir sehr breit untersuchen, ob es in der ersten Welle der Covid-19 Erkrankungen zu sozialen Unterschieden gekommen ist, ob es also soziale Unterschiede im Infektionsrisiko an Covid-19 gegeben hat.

Herr Dörre, Frau Doblhammer hat ja gerade schon gesprochen, dass es ihrer beide Forschung ist, die sich dem anschließt, ähm, gibt es noch andere Forschung die sie in Bezug auf Covid-19 verfolgen werden?

Also es ist eine laufende Weiterentwicklung, würde ich sagen. Gerade jetzt, wenn es um die Frage geht, wie lange wird der Lockdown noch bestehen bleiben, was passiert, wenn der Lockdown wieder aufgehoben oder gelockert wird. Also da gibt’s durchaus noch Potential, sich das weiter zu überlegen. Was ich auch spannend finde, ist jetzt dieser zusätzliche Effekt durch die Impfungen, die langsam anlaufen. Diesen Effekt vielleicht auch messbar zu machen in den Infektionszahlen. Dann kommt ein neuer Effekt hinzu zum Pandemiegeschehen, der sicherlich auch nicht ein Allheilmittel sein kann, aber durchaus die Geschwindigkeit der Verbreitung reduzieren könnte, oder zumindest die Anzahl schwerer Verläufe reduzieren kann. In die Richtung denke ich auch, dass es da noch viele spannende Fragen gibt für die Forschung, die wir uns auch sicherlich gern ansehen werden.

Ich bedanke mich für das Interview und diesen super Einblick, auch mal eine andere Sichtweise auf das Infektionsgeschehen zu haben – einfach nur durch die Hinzunahme der Kontaktraten, des Geschlechts und dem Alter.

Die thematisierten Forschungen von Dr. Achim Dörre und Prof. Dr. Gabriele Doblhammer:

Dörre, Doblhammer (2020). Age- and Sex-Specific Modelling of the COVID-19 Epidemic. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.10.06.20207951v1

Doblhammer, Reinke, Kreft (2020). Social Disparities in the First Wave of COVID-19 Infections in Germany: A Country-Scale Explainable Machine Learning Approach. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.12.22.20248386v1

 

Weitere Informationen:

1 Robert Koch-Institut: https://www.rki.de/DE/Home/homepage_node.html

² van de Kassteele, J., van Eijkeren, J. and Wallinga, J. (2017): Efficient Estimation of Age-Specific Social Contact Rates Between Men and Women, The Annals of Applied Statistics, Volume 11, No. 1, 320–339. https://doi.org/10.1214/16-AOAS1006

 

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Folge 3: Sterblichkeit in der Covid-19-Pandemie, Telefoninterview mit Dr. Felix zur Nieden und Enno Nowossadeck

Demografie und Gesellschaft im Fokus Folge 3: Sterblichkeit in der Covid-19-Pandemie, Telefoninterview mit Dr. Felix zur Nieden und Enno Nowossadeck

Hallo und herzlich Willkommen zu einer neuen Podcastfolge der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Diesmal sind unsere  Gäste  Felix zur Nieden und Enno Nowossadeck. Das Gespräch haben wir am 06. Oktober aufgezeichnet. Dr. Felix zur Nieden arbeitet im Referat für „Demografische Analysen, Modellrechnung und natürliche Bevölkerungsbewegung“ am Statistischen Bundesamt. Außerdem ist er Sprecher des Arbeitskreises „Demografische Methoden“ der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Er wird heute über die Publikation „Sonderauswertung der Sterbefallzahlen 2020“ reden, die er mit seinen Kolleginnen und Kollegen des Statistischen Bundesamtes erstellt hat. Herr Enno Nowossadeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring“ am Robert Koch-Institut in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Folgen des demographischen Wandels für Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Auch Herr Nowossadeck ist Sprecher eines Arbeitskreises der DGD und zwar für „Mortalität, Morbidität und Alterung“. Er spricht über die kürzlich erschienene Publikation „Sterblichkeit Älterer während der COVID-19-Pandemie in den ersten Monaten des Jahres 2020“.
Viel Spaß beim Zuhören!

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Dann begrüße ich Sie und freue mich sehr, dass Sie die Zeit gefunden haben. Wollen wir vielleicht damit starten, dass Sie einmal den Zuhörern sagen, um welche Forschung es geht? Also nur mal einen kurzen Überblick über den Inhalt?

zur Nieden: Am Statistischen Bundesamt stellen wir im Verbund zusammen mit den Statistischen Landesämtern die gesamten Sterbefallzahlen für Deutschland bereit. Und im Zuge jetzt der Corona-Pandemie haben wir das im Rahmen der Sonderauswertung gemacht und zwar schon nach etwa vier Wochen, nach der letzten Berichtswoche. Das heißt zum Beispiel, dass wir die Daten auch regional bereitstellen, nach Bundesländern oder eben auch altersspezifisch und das auf sehr kleine Zeiteinheiten, also auch für Tage und für Wochen. Normalerweise werden altersspezifische Unterschiede ja eher jahresweise betrachtet. Aber die übergeordnete Frage ist: Gibt es einen Corona-Effekt in den Gesamtzahlen? Und in anderen Ländern gab es früh die Berichte, zum Beispiel bei der New York Times gibt’s da einen sehr guten Überblicksartikel, der auch ständig aktualisiert wird mit der Überschrift „Tracking the True Toll of the Coronavirus Outbreak“1. Bei unseren Daten geht’s eben darum diese Fragen, die da aufgeworfen werden, in der Krisensituation so schnell wie möglich auch für Deutschland beantworten zu können. Wir machen jetzt am Bundesamt keine Forschung direkt, wie an einem Forschungsinstitut. Wir können natürlich auch neben den bloßen Zahlen, dann auch eine erste Einordnung der Zahlen mitliefern. Wir müssen genau überlegen, welche Zahlen man heraushebt, welche Befunde man so ein bisschen in den Vordergrund hebt und herausstellt. Darum geht’s im Prinzip bei unserer Arbeit.

Sie haben den Begriff Übersterblichkeit benutzt, können Sie vielleicht mal kurz erklären, was das bezeichnet?

zur Nieden: Also das ist ein Konzept, das kommt ja eigentlich eher aus der Epidemiologie und der Public Health Forschung. Aus meiner Sicht ist es da ganz wichtig zu beachten, dass es kein fest definiertes wissenschaftliches Konzept ist. Im Kontext von Covid-19 geht’s bei dem Begriff aber eigentlich um eine erhöhte Sterblichkeit im Zeitauflauf – also die Frage: „Geht die Sterblichkeit jetzt in der Krisensituation über die Sterblichkeit außerhalb der Krisensituation hinaus?“. Und die Frage kann man dann natürlich auch auf verschiedene Arten und Weisen beantworten: Man kann sich Sterberaten angucken, oder nur die absoluten Sterbefallzahlen, man kann es alters- und geschlechtsspezifisch machen. Es ist also total wichtig, wenn man von Übersterblichkeit spricht, selbst für sich klar zu definieren: „Wie hat man das gemessen?“ – das muss man eigentlich immer dazu sagen, weil es nicht so ein genau festgelegter Begriff ist, wie jetzt zum Beispiel Lebenserwartung. Da weiß ja jeder Demograph zumindest: Ok, das wird mit einer Sterbetafel berechnet, das sind die und die Berechnungsschritte. Das ist bei Übersterblichkeit halt nicht so. Was wir gemacht haben, in unseren Pressemitteilungen, ist, dass wir den einfachen Durchschnitt der vier Vorjahre und dann mit den Zahlen von 2020 verglichen haben und wenn die halt über den Vorjahresdurchschnitt hinausgehen, würden wir dann von einer Übersterblichkeit sprechen. Man kann das aber natürlich auch viel ausgefeilter machen. Alles hat da, glaube ich, seine Berechtigung. Mir ist nur wichtig, dass man einmal genau dazu sagt: „Ich spreche von Übersterblichkeit und habe das so und so gemessen und für mich definiert“ – damit das dann auch ganz klar ist.

Das ist ja sicherlich auch wichtig, wenn die Daten dann in den Medien zu lesen sind. Weil Sie das jetzt auch gerade angesprochen haben – das eben klar ist, was mit Übersterblichkeit tatsächlich auch außerhalb der Wissenschaft oder Ihrer Publikation zu verstehen ist.

zur Nieden: Genau passiert halt leider meist nicht in meiner Wahrnehmung, da wird dann eher gesagt: Es gibt in Deutschland keine Übersterblichkeit, Punkt. Aber wie man es genau gemessen hat oder wie man jetzt zu dem Schluss kommt, wird dann nicht gesagt.

Ja, das scheint ein Problem zu sein aktuell, dass viele Zahlen nach außen gehen, die aber schlecht definiert sind, oder nur unzureichend definiert sind und dadurch natürlich auch Verwirrung stiften, bei Leuten, die eben nicht vom Fach sind. Das ist ja auch ein Grund, warum wir diesen Podcast ins Lebens gerufen haben, um ein bisschen einen Einblick zu geben in diese Forschung und vielleicht ein bisschen aufklären zu können. Herr Nowossadeck, möchten Sie nochmal über Ihre Forschung sprechen? Soweit ich das verstanden habe, greifen Sie ja sehr ineinander.

Nowossadeck: Genau. Ich nutze die Daten, die das Statistische Bundesamt zur Verfügung gestellt hat, also diese kalenderwöchentlichen Sterberaten für die ältere Bevölkerung. Diese habe ich untersucht. Ältere Bevölkerung habe ich in diesem Fall als 65 Jahre und älter definiert. Ich habe mir den zeitlichen Verlauf angeschaut. Zielstellung war, Zeiträume zu identifizieren, in denen möglicherweise die Gesamtsterblichkeit erhöht gewesen ist. Also die Gesamtsterblichkeit, nicht die coronabedingte Sterblichkeit, das können diese Daten noch nicht aussagen, aber die Gesamtsterblichkeit im Vergleich zu anderen Zeiträumen. Ein zweites Ziel war herauszufinden, ob es regionale Unterschiede gibt. Für die Frage habe ich zwei verschiedene Regionen gebildet. Eine süddeutsche Region, die aus den beiden Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern* besteht, und eine norddeutsche Region, die aus den Bundesländern Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg miteinander verglichen. Für den Vergleich habe ich die Daten der Kalenderwochen bis Anfang Juni diesen Jahres verwendet und den gleichen Zeitraum 2016 herangezogen.

In Ihrer Publikation habe ich gelesen, dass Sie auch von Übersterblichkeit sprechen, aber auch von Exzess-Mortalität. Können Sie mir nochmal sagen, was man darunter versteht?

Nowossadeck: Zwischen Übersterblichkeit und Exzess-Mortalität sehe ich jetzt keinen Unterschied. Ich sehe eher die Frage, wie sie auch Felix zur Nieden besprochen hat, dass man klar definieren sollte, was man getan hat und wie die jeweiligen Kennziffern berechnet worden sind. Exzess-Mortalität ist eher der Fachbegriff, während Übersterblichkeit eher in eine umgangssprachliche Richtung geht.

Gibt es einen Grund dafür, dass Sie Ihre Untersuchungspopulation ab 65 Jahren gewählt haben?

Nowossadeck: Ja, dafür gibt es einen Grund. Wir wissen, dass die Sterblichkeit, die durch die Corona-Erkrankung verursacht wird, vor allen Dingen die ältere Bevölkerung betrifft, also ältere Menschen, die schwerere Vorerkrankungen haben. Die sind dann natürlich besonders gefährdet und um mögliche Erhöhungen der Gesamtsterblichkeit zu identifizieren, habe ich versucht, die Untersuchungspopulation möglichst genau einzugrenzen.

Apropos Eingrenzung: Sie sagten auch, Sie haben ja dann in Ihrer Untersuchung norddeutsche Regionen und süddeutsche Regionen zusammengefasst und sie miteinander verglichen. Ist das für das Gesundheitsmonitoring am Robert Koch-Institut von besonderer Bedeutung?

Nowossadeck: Die Frage finde ich interessant, weil dieses Gesundheitsmonitoring natürlich den Rahmen bildet, für unsere Forschungstätigkeit zur Covid-19-Pandemie. Dabei sind natürlich regionale Vergleiche schon immer ein Thema gewesen. Das können Sie an den verschiedensten Publikationen auch erkennen, die wir veröffentlicht haben. Die Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring hat beispielsweise verschiedene Berichte zu Ost-West-Unterschieden im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen veröffentlicht. Und da kann man auch sehen, dass einige gesundheitsbezogene Unterschiede zwischen Ost und West in den letzten Jahren geringer geworden sind, oder auch gar verschwunden sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die Lebenserwartung von Frauen. Deshalb sind wir auch zu der Auffassung gekommen, dass der Ost-West-Ansatz bezüglich verschiedener gesundheitsbezogener Problemlagen keine sinnvolle Fragestellung mehr darstellt. Deswegen haben wir auch andere regionale Unterschiede in den Blick genommen und natürlich bezieht sich das auf Bundesländer, wie ich das jetzt getan habe, aber auch zunehmend auf kleinräumigere Unterschiede, wie beispielsweise Kreise.

Wenn wir bei der Arbeit waren vom Gesundheitsmonitoring, dann würde ich gerne nochmal zu Ihnen kommen, Herr zur Nieden: Wie genau werden die Sterbefälle erhoben bei Ihnen am Statistischen Bundesamt? Und welche Besonderheiten gibt es da, besonders in Bezug jetzt auf die Pandemie?

zur Nieden: Die Sterbefallstatistik ist eine gesetzlich geregelte, dezentrale Statistik und was wie erhoben wird, ist quasi genau gesetzlich geregelt. Da gibt es §2 des Bevölkerungsstatistikgesetzes, was das eben genau festlegt. Und die Daten, die stammen ursprünglich von den Standesämtern. Ein Sterbefall muss ja auch von den Angehörigen in dem Standesamt gemeldet werden, in dessen Zuständigkeit sich der Sterbefall ereignet hat. Und sobald der Sterbefall vom Standesamt beurkundet wurde, werden die Daten an das übergeordnete Statistische Landesamt weitergeleitet. Und dort werden die Daten dann mit Hilfe von Eintragsnummern erstmal auf ihre Vollständigkeit überprüft und auch plausibilisiert. Plausibilisiert heißt jetzt, dass fehlende oder nicht plausible Daten oft dann auch in Rücksprache mit den Standesämtern bereinigt werden. Und dann werden die Daten, sobald das alles geklärt ist, mit dem nach dem Wohnort zuständigen Statistischen Landesamt ausgetauscht. Das heißt, wenn jetzt zum Beispiel jemand in München gestorben ist, aber in Hamburg gewohnt hat, dann kommt der Sterbefall erstmal im Statistischen Landesamt in Bayern an, wird dann da plausibilisiert, und dann wandert er ins Statistikamt Nord und kommt dann nachher letztendlich in die Daten. Das ist auch für die Ermittlung der Bevölkerungszahlen notwendig, weil jemand der in Hamburg gewohnt hat, muss natürlich auch in Hamburg von der Bevölkerung abgezogen werden, zur Ermittlung der Einwohnerzahl. Erst wenn das alles gelaufen ist, gehen die Daten quasi an uns, ans Bundesamt, und können da dann weiterverarbeitet und aufbereitet werden. Und bei den ganzen Schritten, die ich jetzt genannt habe, kann man sich natürlich vorstellen, dass das eine erhebliche Zeit benötigt. Um jetzt bei der Sonderauswertung, die wir aktuell zur Verfügung stellen, schneller zu sein, greifen wir die Daten schon direkt beim Dateneingang der Statistischen Landesämter ab. Die sind dann aber eben noch nicht von den Landesämtern plausibilisiert und das muss man natürlich dann auch im Hinterkopf haben, wenn man mit diesen Daten arbeitet. Man muss halt beachten, dass es im Vergleich zu den endgültigen Daten noch zu Änderungen kommen kann. Und außerdem sind die Daten auch noch nicht vollständig. Wir gehen für die letzte Woche, die wir veröffentlichen, ungefähr davon aus, dass die Daten zu 97, 98 Prozent vollständig sind. Da muss man aber auch im Hinterkopf haben, dass sich das regional stark unterscheiden kann. Für eine vertiefte wissenschaftliche Analyse ist es deshalb, glaube ich, auch wichtig nicht überzuinterpretieren.

Gerade wenn Sie sagen, oder sich bezogen haben auf die auch unterschiedlichen Ämter in den Bundesländern, stellt sich für mich auch die Frage; Wie ist denn die Datenlage besonders in der aktuellen Pandemie im internationalen Vergleich zu bewerten, die wir hier in Deutschland leisten können?

zur Nieden: Ich bin jetzt auch kein absoluter Experte für die internationale Datenlage, aber gucke mir natürlich auch an, was die anderen nationalen Statistischen Ämter so veröffentlichen und mein persönlicher Eindruck ist, dass wir da eigentlich schon ein ziemlich gutes Datenangebot bereitstellen auch in puncto Tiefe und Ausführlichkeit und welche Merkmale zur Verfügung stehen. Andere Länder sind teilweise noch schneller, aber das hat dann eben manchmal auch seinen Preis. Zum Beispiel werten die dann nicht das Sterbedatum aus – also zum Beispiel, wann genau jemand gestorben ist, sondern das Meldedatum: Wann haben sie eine Information von dem Sterbefall bekommen? Und wann der genau gestorben ist, kann man dann erstmal gar nicht so genau zuordnen. Wird zum Beispiel in Großbritannien so gemacht. Oder die Länder nutzen zum Teil Schätzmodelle für unvollständige Daten und schätzen die dann halt hoch, wo natürlich dann auch Annahmen eingebunden sind und gewisse Unsicherheiten mit verbunden sind. Oder sie veröffentlichen unvollständige Daten, die ja wirklich zum großen Teil noch unvollständig sind, wie es zum Beispiel in Norwegen gemacht wird. Also die höhere Schnelligkeit in anderen Ländern ist oft dann auch mit weiteren Einschränkungen in der Datennutzbarkeit verbunden.

Dankeschön. Herr Nowossadeck, wie würden Sie die Lage bewerten, jetzt gerade in Hinblick auf Ihre Forschung, die Sie veröffentlichen?

Nowossadeck: In welcher Beziehung meinen Sie jetzt „die Lage bewerten“?

Wie ich das von Herrn zur Nieden so höre, sind es ja Daten, die teilweise nachgearbeitet werden, wo man vielleicht ein bisschen Zeit vergehen lassen muss, bis man die tatsächlichen Zahlen hat. Wie zeigt sich das in Ihrer Forschung?

Nowossadeck: Also die Probleme, die Felix zur Nieden geschildert hat, zielen auf eine andere Fragestellung, als sie für mich eine Rolle spielen. Es ist natürlich wichtig, die Sterbefälle korrekt zu zählen, damit auch die Bevölkerungsfortschreibung korrekt ist. Das ist aber nicht meine Fragestellung. Meine Fragestellung war ja: „Haben wir Zeiträume, wo die Sterblichkeit erhöht ist?“. Wenn man davon ausgeht, dass schon 97 Prozent aller Fälle da sind, wird sich die Gesamtsituation nicht mehr dramatisch verändern. Insofern kann ich aus meiner Sicht mit dieser Unsicherheit leben, weil es hier sozusagen zwei gegensätzliche Interessen gibt. Das eine Interesse lautet Genauigkeit und das andere Interesse lautet Geschwindigkeit. Wir wollen möglichst schnell Daten zur Verfügung stellen.

Können wir vielleicht noch ein bisschen tiefer in Ihre Forschung reingehen und können Sie beide mir nochmal sagen, wie die Methodik aussieht, die Sie verwenden? Also, warum zum Beispiel wurde das Jahr 2016 genutzt, um die Zahlen zu vergleichen?

Nowossadeck: Das kann ich gern tun. Ich will nochmal genau sagen, was ich berechnet habe, weil wir gerade vorhin darüber geredet haben, dass man genau sagen sollte, was man berechnet hat. Sterberaten habe ich berechnet als die Zahl der Sterbefälle, wie sie vom Statistischen Bundesamt gemeldet worden sind, pro 100.000 Einwohner. Und diese Sterberaten, berechnet man natürlich, um unterschiedlich große Einwohnerzahlen in den verschiedenen Regionen zu berücksichtigen. Bayern hat beispielsweise 13 Millionen Einwohner, Mecklenburg-Vorpommern 1,6 Millionen Einwohner, das ist schon von daher klar, dass unterschiedlich große Sterbezahlen entstehen werden. Für die Bildung der Sterberaten habe ich die Einwohnerzahl am 01.01. des jeweiligen Jahres benutzt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen mich bei der amtlichen Statistik zu bedanken. Dass sie diese Sterbezahlen zur Verfügung gestellt haben, aber auch natürlich die Einwohnerzahlen deutlich früher zur Verfügung gestellt haben. Die Frage, warum ich das mit dem Jahr 2016 verglichen habe: Das ist so, dass wir in den letzten Jahren immer wieder Grippewellen hatten und wir wissen glaube ich alle, dass die gesundheitlichen Auswirkungen von Grippewellen sehr unterschiedlich sein können. Grippewelle ist eben nicht gleich Grippewelle. Wir haben ja vorhin über die Übersterblichkeit oder Exzess-Mortalität geredet und die gibt es auch bei Grippeerkrankungen. Im Winter 2017/18 gab es eine Übersterblichkeit von ca. 25.000 Gestorbenen. Im Winter 2015/16 gab es keinerlei Übersterblichkeit aufgrund von Grippe. Und wenn ich sage “Winter 2015/16“, dann muss man wissen, dass die erhöhten Sterbefallzahlen eigentlich immer erst ab Januar auftreten, sodass wir die Werte des Kalenderjahres 2016 verwenden können, wenn es um die grippebedingte Übersterblichkeit geht. Ich habe mich zunächst erstmal entschieden, die Übersterblichkeit oder die Sterblichkeit in 2020 zu untersuchen, im Vergleich zu einem Jahr, in dem es keine grippebedingte Exzess-Mortalität gegeben hat. Einfach, um sozusagen die Fragestellung sehr klar zu fokussieren. Wenn ich jetzt ein anderes Jahr herangezogen hätte, hätte ich sofort die Fragestellung mit im Boot: Ist das denn typisch für Grippe-Exzess-Mortalität?. Wir haben ja unterschiedlich hohe Zahlen, wie ich schon dargestellt habe, um bis zu 25.000 Gestorbenen und auf der anderen Seite möglicherweise gar keine Gestorbenen.

Und Herr zur Nieden?

zur Nieden: Wir vergleichen die Zahlen in erster Linie mit dem Durchschnitt der Vorjahre, um eben auch so ein bisschen den Vorwürfen zu entgegnen: „Oh die nehmen jetzt das Jahr, wo es am niedrigsten war und wo keine Grippewelle war.“. Grippewelle verursacht ja auch Sterbefallzahlen, wie man ja insbesondere auch im Jahr 2018 sieht. Und dann ist es eben ein guter Kompromiss, mehrere Jahre in diesen Durchschnittsverlauf einzubeziehen, um dann zu versuchen, noch ein bisschen objektiver zu beurteilen: „Was ist jetzt eine erhöhte Sterblichkeit, oder nicht?“ und „Wie sind da normale Schwankungen?“ mit drin zu haben und da nicht nur ein Jahr abzubilden. Wir gehen aber auch nicht viel weiter zurück und bilden auch längere Durchschnitte, um eben auch zu berücksichtigen, dass sich die Altersstruktur ändert und das sich natürlich auch auf die Sterbefallzahlen auswirkt. Da versuchen wir dann so einen Kompromiss zu finden. Den Durchschnitt nehmen wir unter anderem auch, weil er eben auch gut vermittelbar ist. Eine ganz wissenschaftliche Methode, wie das jetzt zum Beispiel beim EuroMOMO2 gemacht wird, mit einem generalisierten Poisson-Regressionsmodell, das ist natürlich schwierig, das dann der breiten Öffentlichkeit griffig zu vermitteln. Das richtet sich dann eher an eine Forschungsöffentlichkeit.

Vielen Dank für den Einblick. Dann können wir zum richtig spannenden Teil kommen und zwar: Welche Ergebnisse haben sich denn in Ihren Forschungen gezeigt?

Nowossadeck: Also ich habe, wie gesagt den zeitlichen Lauf analysiert und ich glaube, es ist gut, bei der Darstellung der Ergebnisse sofort auch in den Regionenvergleich einzusteigen. Wir können sehen, dass es in süddeutschen Regionen ein deutlich verändertes Muster des zeitlichen Verlaufes gegeben hat. Dieses Muster hat sich weder in der norddeutschen Region gezeigt, noch 2016 in beiden Regionen. Wir haben einen Zeitraum mit erhöhten Sterberaten in der älteren Bevölkerung und derzeit auch mit den höchsten Sterberaten, waren die Kalenderwoche 14 und 15, also die Zeit zwischen dem 30. März und dem 12. April. Gegenüber dem Höhepunkt der Inzidenzentwicklung, also der Entwicklung der Neuerkrankungszahlen, ist das etwa zwei bis drei Wochen später. Wenn man bedenkt, dass die Zeit vom Erkrankungsbeginn bis zu einem möglichen Tod etwa zwei bis drei Wochen beträgt, passen die Daten in dieser Hinsicht gut zusammen. Wenn man das jetzt in einem Satz zusammenfassen würde, kann man sagen, dass wir ein ganz spezielles zeitliches Muster in Süddeutschland sehen, das sehr wahrscheinlich mit der Covid-19-Pandemie in Zusammenhang steht. Ein zweites spannendes Ergebnis, finde ich jedenfalls, ist Folgendes: Wir wissen seit langem, dass es in Deutschland ein Nord-Süd-Gefälle in der Sterblichkeit gibt. Die Sterblichkeit in Süddeutschland ist niedriger, als die in Norddeutschland. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Covid-19 Pandemie, wie ich sie gerade dargestellt habe, also die Kalenderwochen 14 und 15, waren die Sterblichkeitsraten in Süddeutschland aber höher als in der norddeutschen Region. Wir hatten also eine gewisse inverse Situation. Das ist zwar eine temporäre Erscheinung, ist aber gleichwohl ein interessantes Phänomen. Und insgesamt ist natürlich schon die Frage: „Wie lassen sich diese beiden Hauptergebnisse erklären?“. Wir wissen, dass regionale Unterschiede in der Sterblichkeit, häufig zumindest teilweise, aus sozialen Unterschieden resultieren. Regionen in denen der Anteil von Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status höher ist, also wie beispielsweise in Süddeutschland, diese Regionen weisen im Allgemeinen niedrigere Sterblichkeitsraten auf, als Regionen mit einem niedrigeren Anteil von Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status. Das traf in der ersten Pandemie-Welle offenbar nicht zu. Im Gegenteil. Hintergrund hierfür ist, dass der Eintrag des Corona-Virus nach Deutschland zu einem beträchtlichen Teil aus den Skigebieten der Alpen erfolgt ist. Wir gehend davon aus, dass überdurchschnittlich mehr Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status sich einen Skiurlaub leisten können, also möglicherweise auch einen zweiten Urlaub im Jahr. Und natürlich müssen wir an die Superspreading-Events denken, an denen überdurchschnittlich deutlich jüngere Menschen beteiligt waren, durch die die weitere Verbreitung des Virus dann erfolgte. Das hat vor allen Dingen in Süddeutschland stattgefunden. Die Weiterverbreitung erfolgte dann regional, aber auch in höhere Altersgruppen.

Ja, sehr spannend. Vielen Dank. Herr zur Nieden?

zur Nieden: Ich habe es ja vorhin schon versucht zu sagen: wir sind ja nicht in erster Linie ein Forschungsinstitut und haben da jetzt so detaillierte Forschungsergebnisse. Bei uns steht da dann auch eher die deskriptive Beschreibung im Vordergrund und der Artikel, über den wir heute sprechen, da wollten wir dann auch erstmal herausstellen, wie eigentlich überhaupt der Erhebungsprozess ist, weil natürlich jetzt, als Statistik so im Fokus stand, viele Fragen aufgetaucht sind. Die Leute haben sich auch gewundert: „Warum kann man nicht einfach auf einen Knopf drücken und hat dann am nächsten Tag die Sterbefallzahlen von gestern?“. Das war so ein bisschen auch die Aufgabe des Artikels, das mal so ein bisschen offen zu legen und diese Fragen mal ausführlich beantworten zu können. Nichtsdestoweniger haben wir natürlich auch noch eine kleine Analyse hinten ran gehängt in dem Artikel. Da ist halt schon ein auffälliger Befund, dass wenn man die Altersstruktur mit einbezieht und nicht nur auf die absoluten Fallzahlen guckt, ein Großteil der beobachteten Übersterblichkeitsbefunde, bezogen auf ganz Deutschland erstmal, erstmal verschwindet. Eigentlich ist es ja bei jeder demographischen Analyse wichtig, die Altersstruktur irgendwie mit einzubeziehen und drauf zu gucken, was sich dann für Befunde ergeben und dann sieht man eben, dass sich vor allen Dingen nur die Altersgruppe 80+ von der Übersterblichkeit betroffen ist und dann auch nur, hat man für ungefähr drei Kalenderwochen, von der 14. bis zur 16. Kalenderwoche um auch bis zu 9% immerhin, auch ein relativ deutlicher Befund ist. Und in unseren Zahlen sieht man eben auch, dass die süddeutsche Region, was auch Herr Nowossadeck gerade schon bestätigt hat, auffällig ist. Da hatten wir ja auch schon bei den absoluten Sterbefallzahlen in 2020 die fast 30 Prozent über denen der Vorjahre lagen. Auch wichtig ist zu betonen, dass man eben aus diesen Zahlen aber nicht, selbst wenn die Befunde zur Übersterblichkeit nur sehr gering sind, oder nur die sehr hohen Altersgruppen betreffen, dass man daraus jetzt nicht direkt ableiten kann, dass Covid-19 nicht gefährlich ist, was ja teilweise auch in der öffentlichen Diskussion passiert. Unsere Zahlen können eben keinen Verlauf anzeigen, der passiert wäre, wenn die ganzen Maßnahmen um das zu verhindern, nicht gemacht worden wären. Diesen hypothetischen Verlauf gibt’s einfach nicht. Wir haben jetzt halt den Verlauf, der mit den Maßnahmen passiert ist und da ist eine geringe Übersterblichkeit vor allen Dingen auch nur in den hohen Altersgruppen. Aber wenn man den Blick auf andere Länder wirft, wo teilweise trotz Maßnahmen, wirklich exorbitante Befunde zur Übersterblichkeit vorliegen, so ein bisschen auch die zentralen Ergebnisse und Befunde, die wir dann auch versuchen in der Diskussion rauszustellen in dem Artikel.

Nowossadeck: Da würde ich gern einhaken. Das finde ich extrem wichtig Felix, was du da gerade gesagt hast, dass wir in Deutschland ja nicht wissen können, wie es ohne diese Maßnahmen gelaufen wäre. Natürlich hilft ein Blick in andere Länder, wo die Maßnahmen nicht in dieser Stringenz und nicht in dieser Geschwindigkeit angesetzt worden sind. In der ganzen Diskussion, die es jetzt auch wieder gibt, mit den zunehmenden Inzidenzzahlen. Wird ja immer diskutiert, wie denn die Auswirkungen sind, wenn man jetzt keinen neuen Lockdown macht, oder wenn man bestimmte Maßnahmen nicht macht. Da müssen wir unbedingt nach Großbritannien schauen, in die USA oder nach Brasilien. Wir sehen dort exorbitante hohe Sterbezahlen. Das wäre möglicherweise uns auch passiert, wenn wir nicht möglicherweise in diesem Fall eine Politik gehabt hätten, die sich wissenschaftlich hat beraten lassen.

Ja vielen Dank. Damit haben Sie schon meine nächste Frage beantwortet. Ja dann noch ein kurzer Ausblick: Sind weitere Forschungen und Veröffentlichen zu erwarten? Ich habe auch rausgehört, dass es ja natürlich auch Aufgabe ist, vielleicht auch ein bisschen Unwissenheit aufzuklären? Wie sehen da die nächsten Schritte aus, können Sie uns dazu was sagen?

Nowossadeck: Ich kann gerne dazu was sagen. Das Gesundheitsmonitoring und die Gesundheitsberichtserstattung, die bei uns in der Abteilung laufen, die sind ähnlich wie im Statistischen Bundesamt keine reine Wissenschaft. Wir machen auch wissenschaftliche Arbeit aber eine unserer Aufgaben ist es auch die interessierte Öffentlichkeit und insbesondere auch die Fachöffentlichkeit oder auch Journalisten, sachlich zu informieren. Dafür gibt es seit einigen Jahren das Journal of Health Monitoring3, in dem mein Beitrag auch erscheinen wird, da achtet die Redaktion schon drauf, dass die Sprechweise, also der Ausdruck, nicht zu kompliziert wird. Also, dass auch Fachfremde das verstehen können, ohne zu viel Vorwissen zu haben. Das wird auch weiterhin so sein. Meine eigene Tätigkeit ist natürlich in die Analysen zur regionalen und sozioökonomischen Fragestellungen des Pandemieverlaufs eingebettet. Also es ist nicht so, dass ich da völlig losgelöst arbeite. Die Tradition unseres Fachgebietes ist schon die Analyse sozioökonomischer Fragestellungen in der Gesundheit. Und genau das wollen wir auch weiterhin untersuchen.

zur Nieden: Bei uns ist es natürlich auch so, dass die Fragestellung natürlich so lange die Pandemie läuft, aktuell bleiben wird: Wie schlägt die Pandemie auf die Gesamtsterbefallzahlen durch? Und deswegen werden wir voraussichtlich diese Sonderauswertung erstmal natürlich auch weiter führen. Und auch weiter, wenn es bestimmte Entwicklung gibt, die auch mal mit einem Artikel zum Beispiel in unsere Hausmagazin Wirtschaft und Statistik4 herausstellen, haben im Prinzip auch den gleichen Ansatz wie schon Enno beschrieben hat, das Journal of Health Monitoring, das man eben auch versucht, mit der allgemein verständlichen Sprache auch eine große Leserzahl zu erreichen und eben auch diese ganzen Hintergründe offenzulegen. Wir sind natürlich auch im ständigen Austausch mit den Nutzerinnen und Nutzern unserer Statistik, die uns dann natürlich auch viele Fragen stellen: „Warum kann man nicht das noch auswerten? Hier vielleicht noch Daten?“, zum Beispiel. Wir haben das ja am Anfang alles relativ schnell aus dem Boden gestampft, deswegen haben wir die Daten nach Bundesländern anfangs nach Registrierort ausgewertet, also da, wo der Sterbefall tatsächlich passiert ist. Das wiederrum ließ sich dann aber schwer mit den Vorjahren vergleichen. Und jetzt haben wir eben auch noch ein paar Tests gemacht und wir können nun doch schon Auswertungen zum Wohnort machen. Anfang Oktober stehen deshalb die Daten nach Bundesländern auch nach Wohnort zur Verfügung. Fragen waren da: „Kann man Daten nicht auch nach Geschlecht irgendwie auswerten um eben zu sehen, ob die Geschlechter unterschiedlich betroffen sind?“. Wir werden das alles im Auge behalten und auch immer mal wieder eine Pressemitteilung wahrscheinlich zum Thema machen, wenn wirklich ein interessanter Befund da ist – und eben auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Dann bedanke ich mich sehr für Ihre äußerst wichtige Darlegung und auch differenzierte Erklärung Ihrer Forschung.

*in dieser schriftlichen Version berichtigt. Im Audio wird „Berlin“ gesagt.

Die thematisierten Forschungen von Dr. Felix zu Nieden und Enno Nowossadeck:

Zur Nieden, F., Sommer, B., & Lüken, S. (2020). Sonderauswertung der Sterbefallzahlen 2020. WISTA–Wirtschaft und Statistik, 72(4), 38-50.
Nowossadeck, E. (2020). Sterblichkeit Älterer während der COVID-19-Pandemie in den ersten Monaten des Jahres 2020. Gab es Nord-Süd-Unterschiede?. Journal of Health Monitoring 5(S9), 2–13.

Weitere Informationen:

1 Jin Wu, Allison McCann, Josh Katz, Elian Peltier, Karan Deep Singh (2020): https://www.nytimes.com/interactive/2020/04/21/world/coronavirus-missing-deaths.html . The New York Times. [05.11.2020]

2 EuroMOMO: Europäisches Sterblichkeitsmonitoring für Exzess-Mortalität in Zusammenhang mit saisonaler Grippe, Pandemien und anderen Gefahren für die öffentliche Gesundheit. Daten aus 26 europäischen Ländern werden wöchentlich bereitgestellt. Weitere Informationen: https://www.euromomo.eu/  [05.11.2020].

3 Herausgeber: Robert Koch-Institut weitere Informationen und Ausgaben: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/JoHM/allgemein/Ueber_die_Zeitschrift_node.html [05.11.2020]

4 WISTA – Wirtschaft und Statistik. Herausgeber: Statistisches Bundesamt. Weite Informationen und Ausgaben:  https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/_inhalt.html [05.11.2020]

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak