Folge 2: Covid-19-Forschung am Robert Koch-Institut, Telefoninterview mit Dr. Annelene Wengler

Demografie und Gesellschaft im Fokus Folge 2: Covid-19-Forschung am Robert Koch-Institut, Interview mit Dr. Annelene Wengler

Wir begrüßen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, zur Podcastreihe der Deutschen Gesellschaft für Demographie. In der heutigen Folge sprechen wir mit Frau Dr. Annelene Wengler. Sie ist in der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring in der Gesundheitsberichterstattung am Robert Koch-Institut tätig. Außerdem ist sie seit 2019 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Todesursachenforschung, der Analyse von Routinedaten und der Gesundheit im Kontext der Migration.
Viel Spaß beim Zuhören!

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Hallo Frau Dr. Wengler,
schön, dass Sie sich Zeit nehmen für unsere Podcast-Reihe und uns über Ihre Forschung berichten möchten. Wollen wir vielleicht gleich damit starten, dass Sie uns einen Überblick geben, über welche Forschung wir reden wollen?

Ich arbeite bei uns am RKI, also am Robert Koch-Institut, im Projekt
Burden 2020 – die Krankheitslast in Deutschland und seinen Regionen1. Manche von Ihnen haben vielleicht schon mal von Burden of Disease gehört oder von Krankheitslastrechnungen, aber ich würde kurz nochmal skizzieren, was wir da machen. Also, grundsätzlich zielen Krankheitslastrechnungen darauf ab, die Auswirkungen von Morbidität und Mortalität auf die Bevölkerung zu messen. Das wird getan, indem die verloren Lebensjahre aufgrund von Erkrankung oder auch von frühzeitigem Tod gemessen werden. Im Bereich der Mortalität wird zum Beispiel für jeden Todesfall ermittelt, wie hoch die weitere Lebenserwartung gewesen wäre und als Summe werden die sogenannten Years of Life Lost (YLL) über Bevölkerungsgruppen hinweg gebildet. Gleichermaßen wird für Erkrankungen geschaut, wie viele Lebensjahre verloren gehen, wenn Menschen an einer bestimmten Erkrankung erkranken. Beide Sachen zusammen werden in einem Summenmaß, in dem Disability-adjusted Life Years (DALY), kombiniert. Ein großer Vorteil dieser Betrachtung ist, dass man eben nicht nur die reinen Fallzahlen betrachtet, sondern auch das Lebensalter oder die Schwere der Erkrankungen berücksichtigt. Grundsätzlich gibt es für unsere Studie auch ein Vorbild, nämlich die Global Burden of Diseases-Studie2, die am Institut for Health Metrics and Evaluation in Seattle durchgeführt wird. Wir passen jetzt aber unsere Analysen auf die deutsche Bevölkerung an und nehmen auch unterschiedliche und differenzierte Datenquellen und wollen vor allen Dingen auch regionalisierte Analysen bereitstellen. Im Rahmen dieses Projektes, machen wir auch Analysen von Covid-19 und gucken uns die Auswirkungen von Covid-19 auf die Bevölkerung an. Dabei berechnen wir in ersten explorativen Analysen die verlorene Lebenszeit aufgrund von Erkrankungen und aufgrund von frühzeitigem Tod.

Und wie Sie schon sagten, Sie am RKI forschen natürlich und welche weiteren Forscher sind daran noch beteiligt?

Also in unserem Projekt arbeiten wir ungefähr zu sechst hier am RKI. Wir sind aber in dem Projekt Burden of Disease und Burden 2020 zusammen mit dem Umweltbundesamt und mit dem wissenschaftlichen Institut der AOK, dem WIdO3, weil wir eben auch Krankenkassendaten verwenden, zum Beispiel.

Das bringt mich ja zu meiner nächsten Frage, wo Sie die Daten herbekommen. Sie sagten ja auch, dass ein Augenmerk Ihrer Forschung darauf liegt, das auch regionalspezifisch zu untersuchen. Wo bekommen Sie da die Daten her?

Also für unser übergeordnetes Projekt, in dem wir ja nicht nur Covid-19, sondern ganz viele verschiedene Erkrankungen und auch ganz umfassend die Todesursachen betrachten, nutzen wir ganz unterschiedliche Daten; die Krankenkassendaten, aber eben auch offizielle Statistiken, wie die Todesursachenstatistik. Wir ziehen auch unsere eigenen Surveys mit zu Rate und sind da sehr breit aufgestellt, was die Datenquellen angeht. Für unsere Analysen im Bereich von Covid-19 nutzen wir aber explizit die Meldedaten, die bei uns im Haus ja gebündelt und zusammengeführt werden.

 Auf die heutzutage, oder in letzter Zeit, sehr viele Leute Zugriff haben, oder zugreifen über Ihre Internetseite und sich die auch täglich vor Augen führen.

Genau. Wir haben zu jedem Covid-19-Fall auch verhältnismäßig differenzierte Daten, also wir wissen Alter und Geschlecht. Wir können es auch regional verorten, weil es über die Gesundheitsämter gemeldet wird und wir haben natürlich noch verschiedene andere Angaben zur Schwere der Erkrankung und auch zum Verlauf. Dementsprechend ist das auch ein sehr umfassender Datensatz mit sehr vielen Informationen.

 Und mit welchen Methoden gehen Sie da ran? Sicherlich haben die Daten, besonders die Todesmeldedaten, ja auch ihre Herausforderungen.

Genau, wir berechnen die verlorene Lebenszeit, zum einen aufgrund von Erkrankungen und aufgrund von Tod. Das machen wir grundsätzlich separat. Das machen wir auch in unserem Projekt Burden 2020 separat, weil die Methoden sehr unterschiedlich sind in beiden Bereichen. Für Todesfälle nehmen wir, verhältnismäßig einfach, den Sterbefall, haben ein Alter zum diesem Sterbefall und wissen dann, wie viel Restlebenszeit wir noch erwartet hätten. Da kann man sicher unterschiedliche Annahmen treffen, aber verhältnismäßig ist das eine relativ einfache Rechnung. Bei den Erkrankungen und den da berechneten Years Lost due to Disability (YLD) ist es ein bisschen komplexer, weil wir da nicht nur angucken, ob eine Person erkrankt ist, oder in welchem Alter, sondern auch, „Wie schwer war die Erkrankung?“. Da spielen dann Sachen mit hinein wie „Gab es einen Krankenhausaufenthalt?“, „Musste die Person beatmet werden?“ und das ist dementsprechend deutlich komplexer. Diese beiden Sachen führen wir dann nochmal zusammen.

Und zu welchen Ergebnissen kommen Sie da bisher bei Ihren Studien? Können Sie uns einen Überblick geben? Sicherlich, es läuft ja auch noch, aber das wir mal schauen, in welche Richtung es geht. Das ist ja super spannend!

In ersten Analysen zeigt sich, dass es durchaus Unterschiede gibt zwischen Mortalität und Morbidität. Wir sind in Deutschland grundsätzlich in der glücklichen Situation, dass wir eine relativ geringe Sterblichkeit haben. Wir haben im Moment 9.000 Sterbefälle in Deutschland. Das sind auf 200.000 Erkrankte oder gemeldete Fälle eben dann doch zum Glück gar nicht so viele. Wir sehen aber, dass sich Erkrankungen deutlich im mittleren Alter häufen, während Sterbefälle besonders stark im hohen Alter auftreten. Wenn man sich das jetzt absolut anguckt, ohne sich die Bevölkerungsstruktur dahinter anzuschauen, dann sieht man, dass es bei den Erkrankungen Häufungen im Alter zwischen 50 und 60 gibt, bei den Todesfällen eher so zwischen 70 und 90. Wenn man das jetzt aber mit der zugrunde liegenden Bevölkerung in Relation setzt, was man aus demographischer Perspektive natürlich immer machen sollte, und die verlorene Lebenszeit je 100.000 Personen in der Altersgruppe berechnet, dann sieht man ein anderes Bild. Da sieht man nämlich sowohl bei den Erkrankten, als auch bei den Gestorbenen besonders viel Lebenszeit ab dem Alter 90, die eben bei Älteren dann verloren geht.

Da muss ich jetzt nochmal zwischen fragen: bezieht sich das auf die Erkrankung mit Corona oder erstmal Allgemein?

Jetzt hab ich erst einmal von Covid-19 Fällen gesprochen, nicht von unserer grundsätzlichen Analyse. Also das machen wir allerdings auch, wir setzen unsere Fälle auch in Relation zu anderen Erkrankungen. Also insbesondere bei der Sterblichkeit kann man das sehr schön machen, weil wir die Sterblichkeit auch umfassend für alle Todesursachen berechnen und für die komplette Todesursachenstatistik. Deswegen können wir ganz gut sehen, in welchem Zeitraum sich die Covid-Sterblichkeit ähnlich verhalten hat, wie bei anderen Erkrankungen, oder wo besonders viele Lebensjahre verloren gingen. Wir erinnern uns ja alle an diesen Piek Ende März/Anfang April und auch noch den ganzen April durch und dann ging es Anfang Mai so langsam wieder runter. Da sind leider auch sehr viele Leute verstorben und die haben dann natürlich auch dazu beigetragen, dass da sehr viel Lebenszeit verloren ging.

Und wie gehen Sie in Ihrer Arbeit damit um, mit dem durchaus öffentlichen Diskurs, dass Verstorbene, die an Covid-19 verstorben gemeldet werden, möglicherweise nicht direkt aufgrund der Krankheit verstorben sind, sondern aufgrund einer Vorerkrankung?

Das ist natürlich dem Sterbegeschehen allgemeinen inhärent. Wir haben das nicht nur bei Covid-19, sondern bei vielen anderen Todesursachen auch, dass insbesondere ältere Menschen selten an nur einer Sache sterben und dass da zum Beispiel eine klare Zuordnung möglich ist. Wir haben das ganz oft, dass multimorbide Menschen in sehr hohem Alter natürlich versterben und wir nicht mehr hundertprozentig zuordnen können, dass die eine Krankheit nun stärker war, als die andere. Was wir hier im Projekt im Allgemeinen machen, und das gilt nun nicht nur für Covid-19 sondern auch für alle anderen Erkrankungen, dass wir jeden Menschen in unseren Berechnungen die gleiche Lebenserwartung zugestehen. Das heißt, wir machen keine Differenzierung, ob der Mensch Vorerkrankungen hatte oder nicht. Zu einem gewissen Grad können wir das ja sogar in den Meldedaten abbilden, aber auch aus ethischen Überlegungen haben wir uns dagegen entschieden. Wir haben das lange diskutiert, aber grundsätzlich ist es ganz schwer zu sagen, wann hätte jetzt auch eine Begleiterkrankung oder eine andere Erkrankung zum Tod geführt, das kann man am Ende gar nicht mehr so genau sagen. Wie soll man das auch auseinander rechnen? Dementsprechend ist es auch sehr schwer, das zu quantifizieren. Rein methodisch, aber auch inhaltlich, ist es schwierig zu sagen, „Jemandem, der jetzt zwei Erkrankungen hatte, gestehe ich sozusagen weniger Restlebenserwartung zu als jemand anderem.“. Aber da gibt es grundsätzlich im ganzen Bereich der Burden of Disease-Berechnungen auch international und auch europaweit Diskussionen, wie man das berechnen sollte. Aber wir haben uns dagegen entschieden, das heißt wir gehen da für alle Sterbefälle in dem gleichen Alter auch von der gleichen Restlebenserwartung aus.

Ich hab auch gerade Ihre Forschung hier vorliegen. Ist natürlich schwer in einem Podcast, aber ich finde diese geclusterten Übersichten immer so faszinierend, die Sie da machen, oder die mit zu Ihrer Forschung veröffentlich werden. Gehört das direkt zu Ihrem Projekt dazu?

Genau, in unserem Projekt beschäftigen wir uns mit der Mortalität, also der Sterblichkeit für Deutschland voll umfassend, das heißt, wir gucken uns die gesamte Sterblichkeit an. Von auch ganz kleinen Erkrankungen, bis sehr großen und wollen für diese Erkrankungen sowohl die Fallzahlen, als auch die Berechnungen publizieren. Da sind wir auch kurz vor der Fertigstellung. Das wir bis Ende des Jahres vermutlich publiziert werden. Bei den Erkrankungen haben wir eine Auswahl getroffen, die uns im Moment auch in der ersten Projektlaufzeit auf 18 Erkrankungen beschränkt. Grundsätzlich ist es unser Ziel, bei den besonders großen und wichtigen umfassend für Deutschland darzustellen: „Woran sterben Leute?“, „Woran erkranken Menschen?“ und „Wieviel Lebenszeit geht verloren?“. Ich glaube, das Schöne bei der Betrachtung der Lebenszeit und nicht so sehr den Fallzahlen ist, dass  sich manchmal eben doch, dass sich manchmal die Dinge umkehren. Wir haben Erkrankungen, die sehr spät im Leben auftreten und auch sehr spät im Leben zum Tod führen und dementsprechend gar nicht so viel Lebenszeit kosten. Wir haben auch Erkrankungen, die recht früh im Leben auftreten und dementsprechend natürlich eine ganz andere Auswirkung haben, weil Menschen sehr früh sterben. Insbesondere dieses Zusammenbringen ist, glaube ich, ein großer Vorteil unseres Projektes. Das hat glaube ich in dem Umfang für Deutschland bisher keiner gemacht. Am Ende kommen wir auf ganz viele verschiedene Daten, wo wir uns auch genau überlegen müssen, wie wir sie am besten und schön darstellen. Eine Kachelgrafik wäre eine Sache, die man damit gut machen kann, zum Beispiel, genau.

Und welche Krankheit trägt dann die meiste Last bisher in Ihren Forschungen?

Also insgesamt haben wir natürlich die Klassiker, die wir jetzt auch erwarten würden. Im Bereich der Herzerkrankungen geht natürlich sehr viel Lebenszeit verloren. Krebserkrankungen, das variiert zwischen Männern und Frauen, weil nun Brustkrebs bei Männern keine große Rolle spielt. Alzheimer und Demenzen spielen natürlich auch, und vor allem in den höheren Altersgruppen, eine große Rolle,  da es eine sehr prominente Erkrankung ist. Aber ich glaube, es gewinnt nochmal an Gewicht, wenn man sich auch anguckt, was es an Lebenszeit bedeutet sozusagen. Das kann dann natürlich auch gut ein Indikator dafür sein: „Wo sind Präventionspotentiale?“, „Wo müsste man was tun?“ und „Welche Sachen muss man vielleicht auch noch stärker bekämpfen?“ oder „Wo muss man noch stärker aktiv werden?“.  Was vielleicht auch noch ein großer Vorteil unseres Projektes ist, ist dass wir das regionalisiert machen und nicht nur auf Bundesländerebene, sondern noch eines tiefer, auf Eben der Raumordnungsregionen. Das sind in Deutschland 96 Stück. Für Kreise reichen die Daten leider manchmal nicht aus, das heißt, so weit können wir nicht gehen, aber auch auf den Raumordnungsregionen kann man schon sehr schön spezifisch Unterschiede sehen. Das ist natürlich auch das, was wir jetzt bei dem Covid-19 Geschehen sehen. Wie zu erwarten; in den Orten an den Bereichen, wo es die Hotspots gab, dass da auch deutlich mehr Fälle sind und schnell Lebenszeit verloren ging. Aber ich glaube gerade die Regionalisierung ist ein riesen Vorteil von unserem Projekt.

Ja auf alle Fälle. Was ist der besondere Beitrag der Demografie für Ihre Forschung?

In unserem Projekt kommen für mein Gefühl unterschiedliche demografische und epidemiologische Methoden zusammen. Insbesondere im Bereich der Mortalitätsanalysen machen wir natürlich ganz klassische demografische Sachen. Wir berechnen die Lebenserwartung, die Sterblichkeitsraten und wenden natürlich auch Methoden der Standardisierung an. Eben nach Alter, oder auch, um die Regionen miteinander vergleichen zu können. Das finde ich, sind ganz klassische demografische Methoden.

 Und noch im Nachhinein von Ihrem Projekt… das wird quasi Ende des Jahres abgeschlossen, sagten Sie?

Grundsätzlich läuft unser Projekt bis März 2021 und wir werden bis dahin unterschiedliche Sachen publizieren. Wir sind jetzt mit der Sterblichkeit ein bisschen früher dran, als mit den Erkrankungen und werden da bis Ende des Jahres vermutlich, wenn alles gut läuft, unsere Ergebnisse veröffentlichen. Das heißt, wir teilen die ganze Todesursachenstatistik in gewisser Weise nach Todesursachengruppen. Das heißt, wir fassen Erkrankungen oder IECD-Codes zusammen und bilden Gruppen von Erkrankungen beziehungsweise Todesursachen und berechnen für eben diese Todesursachen, nach Alter und Geschlecht verlorene Lebenszeit. Das machen wir in unterschiedlicher Detailtiefe und das kann man dann auch hoffentlich in unserer Darstellungsweise am Ende unterschiedlich auswählen. Das heißt, wir versuchen diese Daten auch allen zugänglich zu machen, über eine Website und dann sollte möglich sein, zusätzlich zu gucken: „Ok, die Krebserkrankung xy, wie verteilt die sich in Deutschland und wie ist die in einer bestimmten Altersgruppe in der Raumordnungsregion und in der anderen, oder eben auf Bundeslandebene?“. Damit werden wir jetzt ein bisschen früher dran sein mit diesen Mortalitätsanalysen und dann mit diesen Erkrankungsanalysen bis März 2021 und werden dazu dann auch verschiedene Papiere veröffentlichen. Da sind wir jetzt sozusagen gerade in der finalen Phase. Das ist auch ganz spannend.

Das heißt, Ihre Ergebnisse sollen einsehbar sein über die Internetseite, wie Sie gesagt haben und was wäre dann im nächsten Schritt? Welchen Beitrag könnte Ihre Forschung noch weiterführend haben?

Ganz grundsätzlich ist unser Projekt am RKI eingebettet in ein Fachgebiet zur Gesundheitsberichterstattung. Das heißt, was uns natürlich grundsätzlich im Fachgebiet beschäftigt, ist über die Gesundheit der Bevölkerung zu berichten und Daten dazu zu sammeln und bereit zu stellen. Grundsätzlich kann man natürlich bestimmte Erkrankungen oder auch Todesursachen nur bekämpfen, wenn man weiß, wie sie überhaupt in Deutschland verteilt sind und welche Altersgruppen, welche regionalen Gruppen hier relevant sind. Dementsprechend hoffen wir natürlich, dass wir da einen Beitrag leisten können auf einer grundsätzlichen Ebene der Prävention und der Krankheitsbekämpfung. Eben diese ganzen Daten bereitzustellen, die dann hoffentlich genutzt werden können, um bestimmte Krankheiten zu bekämpfen und sich bestimmten Themen stärker zu widmen. Nur, wenn ich weiß, wie die gesundheitliche Lage ist, kann ich auch was dafür tun.

Ja super spannend. Und wenn Sie dann dieses spezielle Projekt abgeschlossen haben. Können Sie uns da schon mal einen Einblick geben, wird es noch Projekte in diese Richtung geben?

Ja da haben wir natürlich immer die Hoffnung. Manchmal kommen dann ja auch Sachen überraschend, wie die Covid-19-Geschichte, wo vor einem Jahr natürlich auch noch keiner dran gedacht hätte und plötzlich wird das auch ein ganz zentraler Teil der eigenen Arbeit. Man weiß dann manchmal nicht, wie sich das alles weiterentwickelt. Wir haben natürlich aus dem Projekt heraus auch die Hoffnung, dass es verlängert oder auch bestätigt wird, weil es noch sehr viele Aspekte gibt, die man betrachten kann. Also zum einen werden natürlich auch die Todesursachenstatistiken jedes Jahr aktualisiert und es gibt immer neue Daten. Zum anderen haben wir auch erstmal nur eine Auswahl an Erkrankungen betrachtet und können hier noch sehr viel mehr betrachten. Vor allen Dingen ist ja auch wichtig, dass alles zusammen zu bringen und vielleicht auch noch stärker in Richtung einer Datengrundlage, die auch dann für Entscheider vor Ort relevant ist zu wirken und das alles so einzubetten. Also auch im Bereich der Visualisierung; wie stellt man die Ergebnisse dar? Da ist noch sehr viel Potential, was man alles noch im Rahmen des Projektes machen könnte. Das wird spannend und hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie das dann so weiter geht.

Da wollen wir mal die Daumen drücken.

Ja genau und eines wollte ich noch ergänzend sagen; was natürlich sehr grundlegend im Bereich der Covid-19 Erkrankung ganz spannend sein wird und wo es in zwei, drei Jahren erst Daten geben wird, ist natürlich auch wie sich das andere Krankheitsgeschehen und wie sich auch das andere Sterbegeschehen verändert hat. Wir wissen ja jetzt schon, dass es aufgrund der eingeschränkten Mobilität vermutlich weniger Straßenverkehrsunfälle gab und dementsprechend auch weniger Sterblichkeit in diesem Bereich. Wir haben alle auch gehört, dass es möglicherweise weniger Menschen gab, die aufgrund von Schlaganfall oder Herzinfarkt im Krankenhaus gelandet sind. Das könnte natürlich sein, dass das die Sterblichkeit erhöht hat, weil Leute zu spät gegangen sind. Könnte aber auch sein, dass Leute aus unterschiedlichen Gründen eine geringere Sterblichkeit in einigen Bereichen hatten und eine geringere Erkrankung. Ich glaube, das alles dann zusammen zu puzzeln und sich an zu gucken, wie sich diese eine Erkrankung auf viele andere Sachen ausgewirkt hat, das wird noch ein sehr spannender Bereich werden in den nächsten Jahren.

Gehören dazu auch Folgeerkrankungen? Wenn man gerade in einem hohen Alter jetzt an Personen denkt, die eine Covid-19 Erkrankung überlebt haben, dass das sicherlich auch diese Schwächung des Körpers oder Gesundheitszustandes sich vielleicht auch noch weiter auswirken könnte. Gehört das auch dazu?

Das auf jeden Fall auch. Da stehen wir ja alle ganz am Anfang, weil wir auch gar nicht wissen, das wird ja auch diskutiert, ob das Auswirkungen auf das Gehirn hat, auf das Herz oder so weiter. Ich glaube das wird auch sehr spannend sein, inwiefern wir da Sachen bobachten können und sich auch langfristig sich Zusammenhänge ergeben. Das ist auch im Moment ein bisschen schwierig bei dieser Berechnung der verlorenen Lebenszeit aufgrund von Covid-19, weil wir natürlich nicht explizit wissen, „Was bedeutet das alles?“, „Was sind die langfristigen Auswirkungen?“, „Wie viel Zeit geht den Menschen wirklich verloren?“. Das sind vielleicht nicht nur die 14 Tage, wo er Atembeschwerden hatte, sondern es ist möglicherweise etwas, was sich über Jahre zieht und das wird auf jeden Fall ein spannender Bereich werden.

Und genau deswegen wäre die langfristige Sicht und die Weiterführung solcher Art von Projekten super wichtig.

Ganz genau.

Ok. Das finde ich doch ein schönes Schlusswort, auch wenn es jetzt von mir kam, aber ich hab das einfach nur mal zusammengefasst. Dann möchte ich mich auch bedanken für Ihre Zeit und den spannenden Einblick in die Arbeit am Robert Koch-Institut und explizit bei Ihrer Forschung. Ich wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Tag.

Vielen Dank, Ihnen auch.

 

Die thematisierten Forschungen von Dr. Annelene Wengler:

Rommel, A., von der Lippe, E., Plaß, D. et al. BURDEN 2020—Burden of disease in Germany at the national and regional level. Bundesgesundheitsbl 61, 1159–1166 (2018). doi.org/10.1007/s00103-018-2793-0

Wengler, A., Rommel, A., Plaß, D. et al. ICD-Codierung von Todesursachen: Herausforderungen bei der Berechnung der Krankheitslast in Deutschland. Bundesgesundheitsbl 62, 1485–1492 (2019). doi.org/10.1007/s00103-019-03054-1

Weitere Informationen:

1 Informationen des Robert Koch-Institutes zur Studie Burden 2020: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Krankheitslast/burden_node.html

2 Informationen zur Studie Global Burden of Diseases:  http://www.healthdata.org/gbd

3 Das Wissenschaftliche Institut der AOK: https://www.wido.de/

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

Folge 1: Covid-19-Forschung am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Telefoninterview mit Dr. Patrizio Vanella

 

Demographie und Gesellschaft im Fokus Folge 1: Covid19-Forschung: Telefointerview mit Dr. Patrizio Vanella

Wir begrüßen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer zur Podcastreihe der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Unser erster Gast ist Herr Dr. Patrizio Vanella. Er wird seine aktuellen Forschungen in Bezug auf die Covid-19-Pandemie im Bereich der Wirtschaft, Mortalität und Epidemiologie vorstellen. Dr. Patrizio Vanella ist derzeit am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig in der Abteilung für Epidemiologie als Statistiker beschäftigt. Teil seiner Forschungstätigkeit ist die demographische und epidemiologische Prognostik. Aufgrund der aktuellen Situation können wir leider nur ein Telefoninterview mit ihm durchführen. Viel Spaß beim Zuhören!

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Hallo Dr. Vanella.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben, an unserer Podcastreihe teilzunehmen. Würden Sie vielleicht damit starten, einen kurzen Überblick über den Inhalt Ihrer Forschung zu geben?

Ja, sehr gerne. Aktuell, wie man sich vielleicht vorstellen kann, ist der Fokus bei uns am HZI1 sehr stark auf der Forschung zur Covid-19-Pandemie. Unsere Forschungsgruppe hat dabei das Ziel, internationale Studienergebnisse und Daten zusammenzubringen. Womit wir dann Rückschlüsse ziehen wollen, welche Folgen die Pandemie hat. Ich bin persönlich an einer Reihe von recht heterogenen Studien beteiligt. Dabei handelt es sich zum einen um mathematische Modellierungen des Infektionsgeschehens in Deutschland und auf Bundeslandebene, sowie der kurz- und mittelfristigen volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie gegenüber dem, was Gegenmaßnahmen an volkswirtschaftlichen Kosten verursachen könnten. Andere Studien, an denen ich auch beteiligt bin, sind mehr epidemiologischer Natur und versuchen sich an der Erklärung der internationalen Unterschiede der Prävalenz ernster Verläufe der Erkrankung, sowie der Mortalitätsraten. Im Allgemeinen ist der Informationsbedarf selbstverständlich riesig im Moment, da es sich hier um ein zuvor unbekanntes Virus handelt, das auch sehr signifikante Folgen hat und für das auch noch kein Impfstoff vorliegt. Wir verstehen es als unsere Aufgabe, mit unseren Kenntnissen und Fähigkeiten für diese Ausnahmesituation einen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten. Das können wir natürlich am besten, indem wir die Öffentlichkeit informieren und wissenschaftliche Grundlagen für politische Entscheidungen liefern. Entsprechend beschäftigen wir uns mit Themen, die in der öffentlichen Diskussion akut sind, um wissenschaftlich fundierte Beiträge zu dieser Diskussion beizusteuern.

Die aktuelle Pandemie ist ja besonders dadurch geprägt, dass viele Leute sich die aktuellen Fallzahlen anschauen können online, zum Beispiel beim Robert Koch-Institut (RKI). Welche Daten verwenden Sie denn für Ihre Forschung?

Die von Ihnen schon angesprochenen Daten des Robert Koch-Institutes, mit denen arbeiten wir auch sehr viel. Das sind auch die Daten, mit denen wir unser Infektionsmodell füttern. Das sind täglich verfügbare Daten zu Meldungen zu Infektionen und Todesfällen, die wir dann noch unterfüttern mit öffentlich verfügbaren Populationsdaten, die man auf der Datenbank der Regionalstatistik finden kann. Für unsere ökonomische Studie mit dem ifo² greifen wir auf ökonomische Daten zurück, die das ifo aus Arbeitsmarkbefragungen selbst generiert hat. Für unsere anderen Arbeiten, epidemiologischen Studien, arbeiten wir mit Daten aus publizierten Studien oder Berichten der nationalen Gesundheitsbehörden, die wir entsprechend dann extrahieren und zusammenbringen. Das sind in erster Linie Daten zur Schwere des Krankheitsverlaufs der Studienpopulation, also wie viele Personen nach demographischen Merkmalen oder bestimmten Vorerkrankungen stratifiziert, hospitalisiert wurden, Intensivpflege benötigten und final entweder verstorben oder genesen sind.

Da kommen einem gleich die in den Medien aufgegriffene Diskussion über das R, also die Reproduktionszahl, oder verschiedenen Inkubationszeiten und Datenübermittlungen in den Kopf. Vor welche Herausforderung  stellt Sie das in Ihrer Forschung?

Es gibt da einige Schwierigkeiten. Es gibt immer wieder die Diskussion, dass die R-Werte sehr unterschiedlich berechnet werden zwischen dem RKI und uns. Das liegt unter anderem daran, dass wir den Infektionszeitpunkt in der Regel nicht genau kennen und dementsprechend die Daten, mit denen wir arbeiten, sind dann die Daten der Meldung. Die haben wiederum den Fehler, dass die Meldung in der Regel erst dann stattfindet, wenn wir schon erste Symptome hatten und die Person sich eine gewisse Zeit davor auch angesteckt hat. Dann gibt es neben den Meldungsdaten noch die sogenannten Referenzdaten. Das sind in der Regel Schätzzahlen des RKI, wann sich die Personen infiziert haben müssten, die entsprechend dann auch mit einem gewissen Fehler behaftet sind. Das ist sehr problematisch. Was wir relativ gut wissen, sind natürlich die Todesfallzahlen. Die sind ziemlich genau. Wobei, wenn wir uns das im internationalen Vergleich ansehen, durchaus Unterschiede da sind, weil manche Länder verstärkt testen und dann Todesfälle die sie feststellen, wenn eine Infektion mit dem Virus vorlag, als Tod durch Covid vermerken. Obwohl es durchaus sein kann, dass zwar eine Infektion vorlag, aber Tatsache die Covid-Erkrankung  nicht die Todesursache war. Auch der internationale Vergleich zwischen den Daten ist sehr schwierig, weil die demografischen Daten vorher sehr unterschiedlich berichtet werden. Viele Länder berichten nichts zu den Altersstrukturen der Infizierten, der Todesfälle. Manche berichten keine Unterscheide zwischen den Geschlechtern, obwohl da sehr signifikante Unterschiede sind in der Schwere. Auch bei den Ländern, die zum Alter berichten, da haben wir auch eine Studie zu gemacht, da sind wiederum die Altersgruppen sehr unterschiedlich was es dann wieder schwer macht, sie zu vergleichen. Dann sind viele Größen, die sich überhaupt nicht beobachten lassen in den Daten. Wie gesagt, wir wissen nicht, wie viele Leute tatsächlich infiziert sind. Es gibt viele Fälle, vor allem in den jüngeren Altersgruppen, bei denen wir wissen, dass diese nicht so vulnerabel sind, dementsprechend nur mit leichten Symptomverläufen oder teilweise auch asymptomatisch sind. Die werden dann häufig überhaupt nicht in der Statistik aufgeführt. Von daher haben wir da viele Verzerrungen in den Daten. Das ist auch eine große Herausforderung, damit irgendwie umzugehen.

Meine nächste Frage wäre, mit welchen Methoden ist es Ihnen möglich, Ergebnisse aus diesen Daten zu ziehen? Würden Sie uns mal, vielleicht auch für Fachfremde, einen kurzen Überblick geben?

Die Methodiken, die wir verwenden, sind entsprechend der Forschungsfragen auch sehr unterschiedlich. Die Modellierungsstudien der Gruppe von Michael Meyer-Herrmann³ verwenden ein mathematisch-epidemiologisches Modell, das nennen wir SECIR-Modell. Die Idee dabei ist, dass wir ausgehend von einer Startpopulation simulieren, wie sich bestimmte Personengruppen in der Bevölkerung in ihren Gesundheitszuständen verändern. SECIR steht für Susceptible (empfänglich), Exposed (ausgesetzt), Carrier (Träger), Infected (infiziert), Removed (genesen, verstorben). Dabei gibt es gewisse Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den fünf Zuständen, die sich dann entweder aus den Daten schätzen lassen oder durch vorige Studienergebnisse informiert werden. Das ist auch etwas, wo dann die Schwierigkeiten mit den Daten eintreten. Sie wissen ja beispielsweise nicht, wie viele Leute „Carrier“ sind. Das können wir nicht beobachten. Die Modellierungen, die ich auch selbst durchführe, da benutze ich sehr klassische Ansätze aus der Ökonometrie, Statistik und der Demographie: Regressionsmodelle, Hauptkomponentenanalyse, Zeitreihenmodelle. Ich kann vielleicht noch kurz auf die Hauptkomponentenanalyse eingehen, weil viele damit nicht vertraut sind: Das ist eine Methode, bei der wir die Originaldaten zu neuen Variablen transformieren, die wir dann Hauptkomponenten nennen. Es gibt dazu auch Fachliteratur, die die geneigten Leser sich durchaus zu Gemüte führen können. Es gibt ein sehr schönes deutschsprachiges Lehrbuch von Andreas Handl4. Ich habe selbst auch eine Reihe von Publikationen verfasst, die sich auf die Anwendung der Methode in der Demographie beziehen5. Ganz kurz gesagt: Hauptkomponenten sind Indizes, mathematisch würden wir dazu sagen „Linearkombinationen“,  aus den Originalvariablen, die dann entsprechend zu den Originalvariablen korreliert sind, jedoch untereinander unkorreliert sind. Das ermöglicht Analysen hochdimensionaler statistischer Probleme, unter Einbezug der Korrelation der Originalvariablen. Bei Zeitreihenmodellen handelt es sich im Wesentlichen um eine Mischung aus sogenannten klassischen Zeitreihenmodellen, wie sie traditionell zum Beispiel bei Konjunkturprognosen gerne genutzt werden und ARIMA-Modellen, wie sie aus dem finanzstatistischen Umfeld stammen. Die Modelle schätzen dabei Trends in den fraglichen Variablen und quantifizieren die Stochastizität der Zeitreihen. Und dann schließlich, im Rahmen der Metaanalysen die wir machen, hab ich zum Beispiel mit Mixed-Effects-Modellen gearbeitet. Dafür werden einfach Ergebnisse aus multiplen Studien gepoolt, um statistisch Einflüsse verschiedener exogener Variablen auf eine Zielvariable unter Einbezug der Unterschiede in den Studienpopulationen zu testen.

Das war eine ganze Menge. Aber ein schöner Überblick für weniger fachkundige Hörer. Wir werden auf der Internetseite der DGD auch nochmal eine schriftliche Version hochladen, das heißt, man kann es sowohl nochmal nachhören, als auch nochmal nachlesen. Sie haben ja schon angesprochen, dass Sie an vielen thematisch durchaus verschiedenen Studien zu Covid-19 arbeiten und welche Ergebnisse haben sich da gezeigt?

Ich versuch es sehr grob, aber gleichzeitig verständlich. Zum Ersten lässt sich sagen, das ist ja auch schon ein bisschen durch die Medien gegangen: es gibt so ein gewisses Infektionsniveau, wir reden da vom Rt-Wert oder dem Reproduktionsniveau, bis zu welchem die Epidemie durch das Gesundheitssystem beherrschbar scheint. Es muss aber natürlich einschränkend gesagt werden, dass dieser Wert sehr volatil ist. Was wir ja auch beobachten: Durch lokale Ausbrüche, die wir in der letzten Zeit auch immer wieder in den Medien durchaus hatten, kann dieser kurzzeitig stark in die Höhe schnellen, geht dann auch schnell wieder runter. Bei unserer Studie mit dem ifo konnten wir dann zeigen, dass es aus ökonomischer Sicht sinnvoll ist, Maßnahmen gegen Covid so auszutarieren, dass wir das Reproduktionsniveau unter 1 halten, ohne dabei die Wirtschaftsaktivität zu sehr einzuschränken. Man muss dazu auch sagen: Die bisher verfügbaren Daten erlauben es statistisch nicht, Rückschlüsse auf die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen zu schließen. Dazu bräuchten wir ein experimentelles Umfeld mit entweder zwei vergleichbaren Gruppen, die sich nur in den Maßnahmen unterscheiden würden, oder Zeitreihendaten mit ausreichender Länge, in denen spezifische Maßnahmen separat getestet würden. Qualitativ sprechen die Ergebnisse aus meiner Sicht aber stark dafür, dass das Gesamtpaket der Maßnahmen sehr wirksam war. Das Ansteigen des Reproduktionsniveaus nach den Lockerungen der Maßnahmen spricht meiner Meinung nach ja auch klar dafür. Das wird in der öffentlichen Diskussion gerne falsch dargestellt, weil sich nicht relative Werte angeschaut werden, sondern absolute. Auch da mal ein relativ banales Beispiel: wenn wir Rt von 1 und eine Ausgangssituation von 100 Infizierten haben, dann werden diese 100 Infizierten, 100 weitere Personen anstecken. Anderes Beispiel: wenn wir 10.000 Infizierte haben, gleiches Rt, dann werden wir 10.000 weitere Infizierte haben. Die Dynamik ist in beiden Fällen gleich schlecht, impliziert eine theoretisch unendlich andauernde Epidemie. Wenn wir da nur auf die absoluten Zahlen schauen, dann sieht der erste Fall weniger dramatisch aus. Womit wir dann aber die tatsächliche Dynamik falsch einschätzen, weil das Wachstum im Endeffekt gleich stark ist, relativ. Weitere Ergebnisse aus unseren anderen Studien, die vielleicht ganz interessant sind:  Schlüsse lassen sich auf jeden Fall ziehen, dass Männer ceteris paribus vulnerabler sind.  Heißt im Endeffekt: wenn alle anderen Umstände gleich sind, sehen wir, dass Männer signifikant vulnerabler sind als Frauen und wir sehen, dass das Mortalitätsrisiko, ähnlich wie das Pflegerisiko interessanterweise, ab dem Alter von ungefähr 70 massiv zunimmt und Personen mit Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Kardiovaskulären Erkrankungen einem signifikant höheren Mortalitätsrisiko unterliegen.

Aber besonders denke ich mal, das wird aus den von Ihnen erwähnten Herausforderungen deutlich, dass ein Blick auf die bloßen Infektionszahlen nicht reicht, um sich einen Überblick über die Dynamiken zu verschaffen. Wie würden Sie zusammenfassen, welchen Beitrag hat Ihre Forschungen für die Demografie?

Ich würd es eher anders herum drehen: Welchen Betrag die Demografie haben kann auf die Forschung. Ich kann es auch ein bisschen provokativ ausdrücken: Man sieht es immer wieder, dass manche selbst ernannten Experten die Diskussion sehr verzerren. Vor allem in Bezug auf die Sinnhaftigkeit der politischen Maßnahmen, ohne, dass diese aber die statistische Qualifikation aufweisen für die fundierte Bewertung der Lage. Wobei sie sich durch ein Thema, das gerade Mode ist, profilieren wollen. Das sind Punkte, wo die Allgemeinbevölkerung dadurch, dass sie nicht die methodische Ausbildung hat, nicht unterscheiden kann, „Was sind jetzt gute, was sind jetzt schlechte Studien?“. Die Demografie könnte sich dabei, aus meiner Sicht sehr sinnvoll einbringen, da wir eine Branche sind, die über das Handwerkszeug verfügt, in dem Fall mit Epidemiologen und Virologen, methodische Expertise einzubringen. Demografische Aspekte werden aus meiner Sicht in der Epidemiologie völlig ignoriert oder nur am Rande erwähnt. Da wird in diesem Fall nur mit sehr vereinfachten Annahmen gearbeitet, was darin resultiert, dass die entsprechenden Analysen nur sehr unzureichend sind. Liegt aus meiner Sicht an der Divergenz der Methodenausbildung der verschiedenen Disziplinen. Zum anderen auch an den verschiedenen zeitlichen Foki. Wir Demografen tendieren dazu, gesellschaftliche Entwicklung in der langen Frist zu durchdenken. In der Epidemiologie hingegen, wird häufig eher in der kurzen oder mittleren Frist gedacht, um die klinische Praxis und die Gesundheitspolitik akut zu informieren. Ich denke daher in der Tat, dass das ein sehr interessantes Forschungsthema ist, mit dem ich mich abseits der Covid-19-Forschung beschäftige: Dass detailliertere, aktuelle demographische Informationen in Form von tatsächlichen Daten oder Prognosen in der kurzen Frist, sowie aktuellere Daten, sehr hilfreich wären, um auch in der Epidemiologie genauere Auswertungen durchführen zu können. Ich habe generell das Gefühl, dass meine demographische Brille, neben den etwas anderen Methodenkenntnissen, auch eine andere Philosophie mit sich bringt und als sehr positiv und erfrischend wahrgenommen wird. Damit eine schöne Ergänzung ist, für das zweifellos viel höhere, inhaltlich gesundheitswissenschaftliche Verständnis der Epidemiologen und Virologen.

Sind wir wieder bei der Interdisziplinarität von der wir vorhin auch schon gesprochen haben, die ganz wichtig ist in diesem Bereich der Forschung. Auf diese Forschung, die sie schon angesprochen haben, weiter aufbauend: wird es da weiterführende Forschungsprojekte geben?

Naja, also ich verrate immer wenig, weil sich bei uns auch sehr viel, sehr akut ändert. Aber ich sage mal so: die Sachen, die vielleicht auch kein Geheimnis mehr sind, da kann ich schon ein bisschen drauf eingehen. Generell kann man sich auch vorstellen, werden wir sicherlich mit dem Thema noch eine ganze Weile beschäftigt sein. Gleiches gilt entsprechend für mich persönlich dann auch. Es läuft noch, das dürfte bekannt sein, eine von unserem Abteilungsleiter Gérard Krause6 geleitete, deutschlandweite Antikörperstudie an. Bei der werde ich sicherlich mit einigen statistischen Auswertungen der dabei generierten Daten noch sehr beschäftigt sein. Will natürlich aber nicht verhehlen, dass es nicht meine Intention ist, ein Covid-19 Experte zu werden, das überlasse ich dann lieber Virologen, Epidemiologen, Biometrikern. Mein Ziel ist es eher nicht, nur Forschungsergebnisse für die nächsten 12 Monate zu erzielen. Von daher versuche ich in diesem Rahmen, den wir haben, methodische Ansätze zu entwickeln und Schlüsse zu ziehen, die sich auf andere Problemstellungen übertragen lassen. Aus demographischer Sicht wäre es sicherlich interessant, sich die mittelfristigen und langfristigen Effekte dieser Pandemie auf die demographische Entwicklung anzusehen. Das ist aber in der Tat eine Fragestellung, die aus statistischer Sicht seriös erst in ein paar Jahren beantwortet werden kann. Wobei ich da sicher auch noch so ein paar Ideen im Kopf hätte. An denen mangelt es sowieso eher nicht.

Also könnte man zusammenfassen: Es bleibt spannend. Dann bedanke ich mich erst mal an dieser Stelle ganz herzlich bei Ihnen Dr. Vanella.

Ich bedanke mich auch. Vielen Dank für das Interesse. Hat mich sehr gefreut über die Anfrage. Hoffe auch das war für die Hörer ein recht spannendes und informatives Gespräch.

Die thematisierten Forschungen von Dr. Patrizio Vanella:

Dorn, Florian & Khailaie, Sahamoddin & Stöckli, Marc & Binder, Sebastian & Lange, Berit & Vanella, Patrizio & Wollmershäuser, Timo & Peichl, Andreas & Fuest, Clemens & Meyer-Hermann, Michael. (2020). Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechnung zur Eindämmung der Corona- Pandemie. Ifo Schnelldienst digital 6/2020.

Fernandez-Villalobos, Nathalie V. & Ott, Jördis J. & Klett-Tammen, Carolin J. & Bockey, Annabelle & Vanella, Patrizio & Krause, Gérard & Lange, Berit (2020). Quantification of the association between predisposing health conditions, demographic, and behavioural factors with hospitalisation, intensive care unit admission, and death from COVID-19: a systematic review and meta-analysis. [in Begutachtung].

Khailaie, Sahamoddin & Mitra, Tanmay & Bandyopadhyay, Arnab & Schips, & Marta & Mascheroni, Pietro & Vanella, Patrizio & Lange, Berit & Binder, Sebastian & Meyer-Hermann, Michael. (2020). Estimate of the development of the epidemic reproduction number Rt from Coronavirus SARS-CoV-2 case data and implications for political measures based on prognostics. 10.1101/2020.04.04.20053637.

Vanella, Patrizio & Wiessner, Christian & Holz, Anja & Krause, Gérard & Möhl, Annika & Wiegel, Sarah & Lange, Berit & Becher, Heiko. (2020). The Role of Age Distribution, Time Lag Between Reporting and Death and Healthcare System Capacity in Case Fatality Estimates of COVID-19. 10.21203/rs.3.rs-38592/v1.

Vanella, Patrizio & Basellini, Ugofilippo & Kuhlmann, Alexander & Lange, Berit (2020). Assessing International Excess Mortality in Times of Pandemics Based on Principal Component Analysis – The Case of COVID-19. [in Erstellung].

Weitere Informationen:

1 Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH (HZI): https://www.helmholtz-hzi.de/

2 Institut für Wirtschaftsforschung (ifo): https://www.ifo.de/

3 Prof. Dr. Michael Meyer-Herrmann, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH, System-Immunologie: https://www.helmholtz-hzi.de/de/forschung/forschungsschwerpunkte/
immunantwort-und-interventionen/system-immunologie/m-meyer-hermann/

4 Handl, Andreas (2010): Multivariate Analysemethoden. Theorie und Praxis multivariater Verfahren unter besonderer Berücksichtigung von S-PLUS. 2. Aufl. Springer VS.

5 Vanella, P.; Deschermeier, P. 2020: „A Probabilistic Cohort-Component Model for Population Forecasting – The Case of Germany.” Journal of Population Ageing. doi: 10.1007/s12062-019-09258-2.

Vanella, P.; Deschermeier, P. 2019: “A Principal Component Simulation of Age-Specific Fertility – Impacts of Family and Social Policy on Reproductive Behavior in Germany.“ Population Review 58(1): 78-109.

Vanella, P. 2018: “Stochastic Forecasting of Demographic Components Based on Principal Component Analyses.” Athens Journal of Sciences 5(3): 223-246.

Vanella, P.; Deschermeier, P. 2018: “A stochastic Forecasting Model of international Migration in Germany.” Familie – Bildung – Migration. Familienforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis. Tagungsband zum 5. Europäischen Fachkongress Familienforschung, herausgegeben von Kapella, O.; Schneider, N.F.; Rost, H. (S. 261-280). Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Vanella, P. 2017: “A principal component model for forecasting age- and sex-specific survival probabilities in Western Europe.“ Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft (German Journal of Risk and Insurance) 106(5): 539-554.

Prof. Dr. Gérard Krause, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH, Epidemiologie: https://www.helmholtz-hzi.de/de/nc/forschung/forschungsschwerpunkte/bakterielle-und-virale-krankheitserreger/epidemiologie/team/

 

Intro & Outro: Anna-Victoria Holtz
Interviewende: Sina Jankowiak

COVID-19 Forschung

Die DGD ist bestrebt, aktuelle Forschung aus der Demografie zum Thema COVID-19 zu teilen, über kurz- und langfristige gesellschaftliche Konsequenzen zu diskutieren und gemeinsame Forschungsansätze zu initiieren.

Zu diese Thema haben sich innerhalb der DGD die beiden Forschungsgruppen „Gesundheit und Mortalität“ sowie „Familie, Sorgearbeit und Pflege“ etabliert. Darüber hinaus werden auch weitere Schwerpunkte zum Thema COVID-19 bearbeitet.

COVID-19 Forschungsgruppe „Gesundheit und Mortalität“

Die COVID-19-Forschungsgruppe „Gesundheit und Mortalität“ ist ein Ad hoc-Zusammenschluss von Forschenden aus der DGD, um demografische Fragen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie institutionenübergreifend zu bearbeiten. Folgende Themen stehen gegenwärtig im Fokus:

  • COVID-19 und Burden of Disease-Rechnungen (Ansprechpartnerin/Koordination: Annelene Wengler, Robert-Koch-Institut)
  • Exzess-Mortalität (Ansprechpartner/Koordination: Enno Nowossadeck, Robert-Koch-Institut)
  • Regionale Analysen unter Berücksichtigung demografischer Faktoren (Ansprechpartner/Koordination: Enno Nowossadeck)
  • Folgen der Quarantäne für die psychische Gesundheit (Ansprechpartner/Koordination: Thomas Stein, Charité Berlin)

Die Forschungsgruppe versteht sich als offenes Forum. Interessierte Kolleginnen und Kollegen sind herzlich eingeladen, sich entsprechend ihrer Expertise und Kapazitäten einzubringen.

Veröffentlichungen

Dörre, A., Doblhammer G. (2020): The Effect of Gender on Covid-19 Infections and Mortality in Germany: Insights From Age- and Sex-Specific Modelling of Contact Rates, Infections, and Deaths, doi: https://doi.org/10.1101/2020.10.06.20207951

Zur Nieden, F., Sommer, B., & Lüken, S. (2020): Sonderauswertung der Sterbefallzahlen 2020, WISTA–Wirtschaft und Statistik, 72(4), 38-50.

Nowossadeck, E. (2020): Sterblichkeit Älterer während der COVID-19-Pandemie in den ersten Monaten des Jahres 2020. Gab es Nord-Süd-Unterschiede?, Journal of Health Monitoring 5(S9), 2–13.

COVID-19 Forschungsgruppe „Familie, Sorgearbeit und Pflege“

Ansprechpartner:in/Koordination:

  • Michael Feldhaus, Universität Oldenburg
  • Anne-Kristin Kuhnt, Universität Duisburg-Essen

Weitere Forschungsarbeiten zum Thema COVID-19

„Corona-Krise fordert Wohnungspolitik heraus“
(Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Heft 7, 2020, zum Artikel)
Holger Cischinsky, Philipp Deschermeier, Max-Christopher Krapp, Martin Vachéz

„Einstellungen der Bevölkerung im Kontext der Corona-Pandemie – Determinanten der Impfbereitschaft“
(Projekt des Regensburg Center of Energy and Resources, Regensburg Center of Health Sciences and Technology, OTH Forschungscluster Ethik, Technologiefolgenforschung und Nachhaltige Unternehmensführung
Prof. Dr. Sonja Haug, Prof. Dr. Karsten Weber, Prof. Dr. Rainer Schnell

„Qualitative Studie zur Impfbereitschaft im Kontext der Corona-Pandemie“
(Projekt des Regensburg Center of Energy and Resources, Regensburg Center of Health Sciences and Technology, OTH Forschungscluster Ethik, Technologiefolgenforschung und Nachhaltige Unternehmensführung
Prof. Dr. Karsten Weber, Prof. Dr. Sonja Haug

„Forschen in der Krise – Wege, Mittel, Bedürfnisse bayerisch-tschechischer Forschungskooperationen in der Corona-Krise“
Prof. Dr. Sonja Haug, Prof. Dr. Karsten Weber, Dr. Caroline Dotter, Prorektor doc. Ing. Luděk Hynčík, Ph.D.

„Post-Pandemic Populations. Die demografischen Folgen der COVID-19- Pandemie in Deutschland“
(Projekt des Max-Planck-Institutes für demografische Forschung und des europäischen Forschungsnetzwerks Population Europe in Berlin, zum Projekt)
Projektleiterin: Emily Lines

„Was kommt nach dem großen Shutdown? Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise“
(FOM Hochschule für Ökonomie & Management, KCV KompetenzCentrum für angewandte Volkswirtschaftslehre, zum Artikel)
Luca Rebeggiani, Monika Wohlmann, Christina Wilke